Appell an die Regierenden

So geht es nicht mehr weiter!

04:19 Minuten
Eine Hand steckt einen Umschlag in eine Wahlurne.
Bis zur Bundestagswahl bleibt den Parteien noch genug Zeit, um verständlich zu formulieren, was sie verändern wollen, meint Susanne Gaschke. © Unsplash / Element5 Digital
Ein Einwurf von Susanne Gaschke |
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Langsame Behörden, die digitale Verwaltung hakt, verdreckte Parks: Der Frust beim potenziellen Wahlvolk ist groß, aber von den Parteien hört man wenige Monate vor der Bundestagswahl kaum konkrete Lösungen, kritisiert die Publizistin Susanne Gaschke.
Mein Freund D. ist Rechtsanwalt im ländlich geprägten Nordfriesland. Er vertritt viele Opfer häuslicher Gewalt. Seine Arbeit erfordert, dass er im ganzen Landkreis unterwegs ist, wobei er viel Zeit damit verbringt, auf der Bundesstraße 5 mit dem Auto hinter Treckern herzuschleichen.
Der Ausbau der B5 zur Autobahn oder wenigstens zur Dreispurigkeit ist ein Problem, zu dem in Nordfriesland fast jeder eine Meinung hat. Getan hat sich hier seit Jahrzehnten: nichts.

Frust über Arbeitstempo der Baubehörde

Mein Freund R. saniert im brandenburgischen Jüterbog ein denkmalgeschütztes Gebäude. Entstehen sollen dort Co-Working-Spaces, Ateliers, erschwingliche Studentenunterkünfte. Alle Brand- und Denkmalschutzauflagen einzuhalten, ist ein kostspieliges Unterfangen, aber dazu ist R. gern bereit, er findet die Vorschriften im Grundsatz richtig.
Was ihn frustriert ist, wie lange die Baubehörde für jede einzelne Genehmigung braucht. Deren großzügiger Umgang mit seiner Zeit verursacht ständige Planungsunsicherheiten und existenzielle Einnahmeausfälle.
Mein Freund F. betreibt in Berlin Mitte ein Restaurant mit angeschlossenem Kulturprojekt. Er beschäftigt hauptsächlich Flüchtlinge – zu anständigen Löhnen. Umso genervter ist er, wenn das Ordnungsamt mit dem Zollstock anrückt, um zu messen, ob seine Tische auf dem Bürgersteig vor dem Lokal am Ende eines Abends sieben Zentimeter über die erlaubte Außengastronomie-Fläche hinausragen.

Digitale Terminbuchung funktioniert nicht

Mein lieber Ehemann brauchte neulich einen neuen Reisepass, weil er sich im Irak an einem Projekt zum Demokratieaufbau beteiligen wollte. Die Berliner Bürgerämter sind angeblich vollständig vernetzt, nur ließ sich digital leider selbst unter Hinzuziehung eines IT-Experten kein Termin buchen.
Der Gatte fuhr dann mit dem Fahrrad zum Sitz der Behörde, wurde analog beim Türsteher vorstellig und bekam die Anweisung, am übernächsten Tag um 8.12 Uhr bei der zuständigen Beamtin zu erscheinen. Das klappte, aber: Dies nur mal zum Thema "digitalisierte Verwaltung".

Straßen und Parks sind verdreckt

Als Steuerbürger des deutschen Staates sind wir mit einem System geschlagen, in dem man ohne Steuerberaterin verloren ist. Wir finanzieren eine Justiz, die sich zum Teil erst nach Jahren mit unseren Rechtsstreitigkeiten befasst. Wir leben mit verrottenden Schwimmbädern, und unsere Kinder müssen Schultoiletten nutzen, über die man wirklich nicht sprechen möchte.
Wir müssen uns – nicht erst seit Corona – fragen, warum unser teilprivatisiertes Gesundheitssystem immer teurer wird, warum so viele Beschäftigte daran verzweifeln, warum dort Menschen einerseits unnötig operiert werden und andererseits überraschend sterben.
Wir, die Staatsbürger ohne private Riesengärten oder parkartige Villenanlagen, müssen die Politik fragen, warum der öffentliche Raum oft so schmutzig ist, so verwahrlost, so wenig einladend. Wie müssten Kommunen und Bezirke ihre Grünflächenämter und Stadtreinigungen organisieren, damit sich alle auf Straßen und in Parks wohlfühlen könnten?

Zynismus ist Gift für die Demokratie

In den Grundsatzprogrammen der Parteien und in den Wahlprogrammen zur Bundestagswahl im September 2021 finden sich zu solch konkreten Fragen nur wenige Antworten. Meist geht es in diesen technokratischen Texten darum, die unterschiedlichen Flügel oder Strömungen einer Partei ruhig zu stellen – und die interne Erwartung ist ohnehin, dass das "draußen kein Mensch liest".
Das ist schade, und dumm, und fördert die Entfremdung zwischen den Wählern und der politischen Klasse. Selbst gutwillige Staatsbürger kann man so zu Zynikern machen, und Zynismus ist Gift für die Demokratie.
Bis zur Bundestagswahl sind es noch vier Monate. Immer noch Zeit genug, um auf zwei oder drei Seiten zu formulieren, was sich in diesem Land ändern muss – schnell, konkret und gründlich.

Susanne Gaschke schreibt für "Welt", "Welt am Sonntag" und NZZ. Von 1997 bis 2012 war sie Reporterin und Leitartiklerin bei der Hamburger Wochenzeitung "Die Zeit". Ende Dezember 2012 übernahm die Sozialdemokratin das Oberbürgermeisteramt in Kiel. Ende Oktober 2013 erklärte sie ihren Rücktritt. 2020 trat sie aus der SPD aus. Sie ist Autorin zahlreicher Sachbücher. Zuletzt erschien von ihr: "SPD. Eine Partei zwischen Burnout und Euphorie." (2017). Im Sommer 2021 erscheint im Heyne Verlag eine Biografie des Grünen Co-Vorsitzenden Robert Habeck. Susanne Gaschke lebt mit ihrem Ehemann in Berlin.

Eine Frau mit halblangen blonden Haaren sitzt in einem TV-Studio.
© picture alliance/dpa/SvenSimon
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