Appell an die Bescheidenheit
In "Wir werden sein wie Gott" schildert John Gray die letzten 150 Jahre Politik- und Zeitgeschichte als Panorama einer von Angst und Größenwahn getriebenen Sehnsucht nach Fortbestand. Doch wer sich dem Geheimnis des Lebens nähere, müsse akzeptieren, Gast zu sein, so der britische Historiker.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden die Überreste Lenins einmal mehr generalüberholt. 2004 verkündete die russische Regierung stolz, der seit siebzig Jahren tote Politiker sehe so jung aus wie seit Jahrzehnten nicht mehr - ewiges Leben im Mausoleum.
"Wir werden sein wie Gott" heißt das fulminante neue Buch von John Gray. Dem Untertitel zum Trotz steht hier keineswegs die wissenschaftliche Forschung zur Verlängerung des Lebens im Mittelpunkt, sondern der Autor entfaltet die letzten hundertfünfzig Jahre Politik- und Zeitgeschichte als schrilles Panorama einer mal von Angst, mal von schierem Größenwahn angetriebenen Sehnsucht nach ewigem Fortbestand.
Den ersten Teil seines Buches widmet John Gray dem viktorianischen England, das versessen darauf war, durch "Kreuzkorrespondenzen" - aus dem Jenseits diktierten Briefen - Lebenszeichen von Verstorbenen zu erhaschen. Dahinter steckte, wie der Autor mit ergreifenden Zitaten zu belegen weiß, eine verängstigte Suche nach Orientierung. Charles Darwin hatte Gott als Schöpfer des Menschen obsolet gemacht - wie aber ließen sich Moral und Mitgefühl in die kalten neuen Zeiten retten? Inständig (und wenig logisch) hoffte man, die Stimmen der Toten könnten Antwort geben.
Weiträumig, assoziativ und voller Sinn für absonderliche Details geht John Gray sein Thema an, mengt unter den Text Episoden von Liebe, Verrat und Mord und lässt seine Sprache zwanglos wandern zwischen kristallklarer Weite, kunstvoll geschachtelten Satzgebilden und verschroben-düsteren Formulierungen, dass es die reine Leselust ist. Bisweilen wird es dann auch schrecklich grausam, etwa wenn der Autor die Schaffung des neuen Menschen in der frühen Sowjetunion rekapituliert:
Angetrieben von einem quasi-religiösen Impuls - siehe der übermenschlich dauerfrische Lenin -, sollte ein kommunistisches Paradies auf Erden der schnöden Zeitlichkeit auf immer die Stirn bieten. Dem Heilsprojekt im Weg standen lediglich Abermillionen passungenaue Menschen, die verbrannt, verbannt, lebendig vergraben und abgeschlachtet werden mussten. Auf dem Weg zur unsterblichen Gesellschaft floss das Blut der Sterbenden in Strömen.
Fast harmlos macht sich da die moderne Forschung aus - Körper in Tiefkühltruhen, Persönlichkeiten auf Festplattenspeichern, gentechnische Manipulationen. Gleichwohl zeigt sich der Autor auch davon befremdet und beendet sein Buch mit einem erstaunlich sanften Appell: an die Bescheidenheit. Weder Wissenschaft noch Religion taugten, ernsthaft betrieben, für den Größenwahn. Wissenschaft sei nur ein Werkzeug ohne weltanschauliche Tugenden; Religion im Kern ebenfalls kein Glaubenssystem, sondern gelebte Praxis - Gebet, Ritual, archetypisches Gleichnis. Wer sich dem Geheimnis der Existenz nähern wolle, müsse Ideologie und Ratio still werden lassen und akzeptieren, Gast zu sein in einer Welt, die menschliches Verstehen weit übersteige. Das ist wahrhaft, das ist klug und es ist wunderbar geschrieben.
Besprochen von Susanne Billig
John Gray: Wir werden sein wie Gott. Die Wissenschaft und die bizarre Suche nach Unsterblichkeit
Übersetzt von Christiane Schmutz und Frithwin Wagner-Lippok
Verlag Klett-Cotta, 2012
268 Seiten, 21,95 Euro
"Wir werden sein wie Gott" heißt das fulminante neue Buch von John Gray. Dem Untertitel zum Trotz steht hier keineswegs die wissenschaftliche Forschung zur Verlängerung des Lebens im Mittelpunkt, sondern der Autor entfaltet die letzten hundertfünfzig Jahre Politik- und Zeitgeschichte als schrilles Panorama einer mal von Angst, mal von schierem Größenwahn angetriebenen Sehnsucht nach ewigem Fortbestand.
Den ersten Teil seines Buches widmet John Gray dem viktorianischen England, das versessen darauf war, durch "Kreuzkorrespondenzen" - aus dem Jenseits diktierten Briefen - Lebenszeichen von Verstorbenen zu erhaschen. Dahinter steckte, wie der Autor mit ergreifenden Zitaten zu belegen weiß, eine verängstigte Suche nach Orientierung. Charles Darwin hatte Gott als Schöpfer des Menschen obsolet gemacht - wie aber ließen sich Moral und Mitgefühl in die kalten neuen Zeiten retten? Inständig (und wenig logisch) hoffte man, die Stimmen der Toten könnten Antwort geben.
Weiträumig, assoziativ und voller Sinn für absonderliche Details geht John Gray sein Thema an, mengt unter den Text Episoden von Liebe, Verrat und Mord und lässt seine Sprache zwanglos wandern zwischen kristallklarer Weite, kunstvoll geschachtelten Satzgebilden und verschroben-düsteren Formulierungen, dass es die reine Leselust ist. Bisweilen wird es dann auch schrecklich grausam, etwa wenn der Autor die Schaffung des neuen Menschen in der frühen Sowjetunion rekapituliert:
Angetrieben von einem quasi-religiösen Impuls - siehe der übermenschlich dauerfrische Lenin -, sollte ein kommunistisches Paradies auf Erden der schnöden Zeitlichkeit auf immer die Stirn bieten. Dem Heilsprojekt im Weg standen lediglich Abermillionen passungenaue Menschen, die verbrannt, verbannt, lebendig vergraben und abgeschlachtet werden mussten. Auf dem Weg zur unsterblichen Gesellschaft floss das Blut der Sterbenden in Strömen.
Fast harmlos macht sich da die moderne Forschung aus - Körper in Tiefkühltruhen, Persönlichkeiten auf Festplattenspeichern, gentechnische Manipulationen. Gleichwohl zeigt sich der Autor auch davon befremdet und beendet sein Buch mit einem erstaunlich sanften Appell: an die Bescheidenheit. Weder Wissenschaft noch Religion taugten, ernsthaft betrieben, für den Größenwahn. Wissenschaft sei nur ein Werkzeug ohne weltanschauliche Tugenden; Religion im Kern ebenfalls kein Glaubenssystem, sondern gelebte Praxis - Gebet, Ritual, archetypisches Gleichnis. Wer sich dem Geheimnis der Existenz nähern wolle, müsse Ideologie und Ratio still werden lassen und akzeptieren, Gast zu sein in einer Welt, die menschliches Verstehen weit übersteige. Das ist wahrhaft, das ist klug und es ist wunderbar geschrieben.
Besprochen von Susanne Billig
John Gray: Wir werden sein wie Gott. Die Wissenschaft und die bizarre Suche nach Unsterblichkeit
Übersetzt von Christiane Schmutz und Frithwin Wagner-Lippok
Verlag Klett-Cotta, 2012
268 Seiten, 21,95 Euro