Medikamentenmangel

Wenn die rettende Pille in der Apotheke fehlt

07:29 Minuten
Illustration: Eine Apothekerin mit vielen farbigen Arzneiflaschen im Regal, sie greift nach einem Medikament.
Arzneimittelkauf in der Apotheke: Die Pharmazeuten müssen inzwischen häufig Ersatz für bestimmte Medikamente finden, die gerade nicht lieferbar sind. © imago / Ikon Images / Pascal Fossier
Von Ann-Kathrin Jeske · 27.10.2022
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In deutschen Apotheken gibt es bei über 280 Arzneien Lieferengpässe - von Paracetamol-Fiebersäften für Kinder bis zum Brustkrebsmittel Tamoxifen. Meist gelingt es, Ersatz zu organisieren. Eine Expertin schlägt vor, die Beschaffung neu zu gestalten.
Anke Rüdiger verschwindet für einen kurzen Moment im Hinterzimmer ihrer Apotheke im Osten Berlins. Ihre Kundin hat Glück: Sie erhält die vorerst letzte Packung des Medikaments Prednisolon, eines Schmerzmittels gegen Rheuma, das die ältere Dame täglich einnimmt.
Das lila Symbol, das sie auf ihrem Bildschirm zu dem Mittel angezeigt bekommt, bedeute nichts Gutes, erklärt Rüdiger. Es zeige an, dass sie es nicht nachbestellen kann. Zumindest nicht sofort. Möglicherweise hat sie es dann erst einmal nicht vorrätig.

Immer mehr Medikamente nicht lieferbar

Solche Lieferschwierigkeiten sind für die Apothekerin ein Problem, vor dem sie inzwischen immer häufiger steht: Mehr als 280 Medikamente sind laut dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte aktuell von einem Lieferengpass betroffen – das heißt, sie sind mehr als zwei Wochen lang nicht wie gewohnt verfügbar.
Und diese Liste ist noch nicht einmal vollständig. Denn die Behörde zählt nur sogenannte versorgungsrelevante Arzneimittel auf, die außerdem verschreibungspflichtig sein müssen.
In der Schublade, die Apothekerin Anke Rüdiger aus einer großen Schrankwand herauszieht, zeigt sich, woran es noch fehlt: „Richtige Klassiker: diese kleine Augen- und Nasensalbe zum Beispiel – auch nicht da; ACC Akut – nicht lieferbar.“

Kunden kennen den Mangel bei ihren Arzneien

Die gute Nachricht: In den meisten Fällen gelingt es der Apothekerin, die Kundinnen und Kunden mit Medikamenten anderer Hersteller mit ähnlicher Wirkung, oft sogar mit demselben Wirkstoff, zu versorgen.
Die nächste Kundin aber hat Pech. Der Fiebersaft, den sie für ihre Enkelin kaufen wollte, ist aus. „Die Kleine wurde aus der Kita nach Hause geschickt und jetzt pass ich auf", sagt Birgit Schwiertz. "Ich wollte helfen, damit der Husten schneller weggeht und sie wieder schneller in die Kita kann. Habe aber die Probleme, dass ich jetzt nicht an dieses Medikament komme.“

Birgit Schwiertz kennt das schon. Sie selbst hatte in den vergangenen Monaten immer wieder Schwierigkeiten an, ein Medikament gegen Schuppenflechte zu kommen.

Umstieg auf anderes Medikament

Schließlich stieg auch sie auf einen anderen Hersteller um, der noch lieferbar ist. „Mir wird immer versichert, dass es genau das Gleiche ist; nur ein anderer Hersteller, aber der Inhalt ist der gleiche. Gott sei Dank bin ich nicht sehr empfindlich, keine Probleme, selbst wenn ich ein Medikament wechsle.“
Doch das klappt mit dem Hustensaft heute nicht. Für die Fieberzäpfchen, die Anke Rüdiger in ihre Apotheker noch im Bestand hat, ist die dreijährige Anna noch zu jung. Birgit Schwiertz meint, dann versuche sie es eben in anderen Apotheken. "Vielleicht gibt es Restbestände.“

Paracetamol-Fiebersäfte für Kinder sind knapp

Ein Problem nicht nur in Berlin, das interessanterweise die geringste Apothekendichte in Deutschland hat. Paracetamol-Fiebersäfte für Kinder sind schon seit mehreren Monaten im gesamten Land knapp.
„Da gab es nur eine Handvoll Hersteller in Deutschland und einer ist ausgestiegen", erklärt Apothekerin Rüdiger. Jetzt sei ein Hersteller übrig und der schaffe es nicht, den Bedarf zu decken. "Die anderen sind ausgestiegen, weil es nicht mehr lukrativ ist."
Wir müssten uns in Deutschland "jetzt mal ernsthaft die Frage stellen: Wie viel ist uns Arzneimittel-Therapie wert?“, fordert Anke Rüdiger.

Krankenkassen übernehmen Mehrkosten

Der Preisdruck sei in Deutschland vor allem bei den vergleichsweise günstigen Generika – Medikamenten, die keinem Patentschutz unterliegen – ein Problem.
Während die Preise für Paracetamol laut Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte innerhalb eines Jahres um 70 Prozent gestiegen sind, blieb der Festpreis, den Hersteller von den Krankenkassen pro Flasche Fiebersaft erhalten, gleich.
Inzwischen versuchen die Krankenkassen gegenzusteuern, indem sie beispielsweise Mehrkosten für importierte Medikamente, aber auch die Kosten für in Apotheken eigens angerührte Säfte verstärkt übernehmen.

Knappheit unabhängig vom Produktionsort

Die grundsätzliche Knappheit löst das allerdings nicht. Die Pharma-Expertin vom Institut der Deutschen Wirtschaft, Jasmina Kirchhoff, macht für alle Medikamente, die zuletzt von Lieferschwierigkeiten betroffen waren, eine Gemeinsamkeit aus:
„Wenn man sich anschaut, welche Medikamente in den letzten Wochen und Monaten besonders im Fokus standen – etwa Paracetamol, das Brustkrebsmittel Tamoxifen oder auch das Blutplasmamittel Cutaquig –, sehen wir, dass die Anzahl der Unternehmen, die auf dem Markt verblieben sind, sehr, sehr gering war. Und das ganz unabhängig davon, wo produziert wird.“
Wenn dann ein Hersteller ausfällt, beispielsweise weil er einen Wirkstoff von einem Zulieferer in der globalen Lieferkette nicht bekommt, entstehe schnell ein Engpass.

Verlagerung der Produktion in die EU?

Forderungen, wie es sie vor allem zu Beginn der Corona-Pandemie gab, die Produktion von Medikamenten wieder verstärkt nach Deutschland beziehungsweise in die EU zurückzuverlagern, sieht die Ökonomin dennoch skeptisch. Nicht national, sondern global müsse es wieder mehr Hersteller geben.
Sie fordert, dass bei den Ausschreibungsverfahren der Krankenkassen nicht nur die Unternehmen gewinnen sollten, die den niedrigsten Preis bieten.
„Unternehmen, die in robuste Lieferketten investieren, die einen zweiten Zulieferer aufnehmen, die einen weiteren Produktionsstandort berücksichtigen, fallen in der Regel aus diesem Ausschreibungsverfahren raus, weil diese ganzen Investitionen einfach die Kosten in die Höhe treiben und sie damit preislich nicht mehr wettbewerbsfähig sind.“

Stabilität bedeutet höhere Preise

Klar ist aber auch: Die Preise für Medikamente dürften dann steigen. Politisch zeichnet sich so eine Entwicklung aktuell nicht ab. Das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz, das vor einer Woche im Bundestag in Bezug auf die Gesetzliche Krankenversicherung verabschiedet wurde, hat an den grundsätzlichen Regeln der Preisfestlegung nichts verändert.
Apothekerin Anke Rüdiger verbringt deshalb inzwischen viel Zeit damit, nach Alternativen zu suchen: Telefonate mit Herstellern, die ein ähnliches Medikament herstellen, oder mit befreundeten Apotheken, die vielleicht noch einen Restbestand auf Lager haben.

Ersatz wird in der Regel beschafft

Den Patientinnen und Patienten will die Apothekerin, die außerdem Vorsitzende des Berliner Apotheker-Verbands ist, eine große Sorge nehmen: Wenn Apotheken ein benötigtes Medikament nicht haben, kümmerten sie sich darum, es den Patientinnen und Patienten "in irgendeiner Form zur Verfügung stellen", versichert sie. Und fügt hinzu: "Das gelingt uns in der Regel auch.“ Denn die meisten Lieferengpässe seien nach einigen Tagen oder spätestens Wochen zum Glück doch wieder behoben.
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