Anything Goes oder: In welcher Welt leben wir?
Von Hans Christoph Buch · 18.02.2013
Amokläufe, Morde, Bombenanschläge, Terror, Kannibalismus - eine Schreckensmeldung jagt die nächste. Lässt sie uns kalt, die alltägliche Gewalt, fragt der Schriftsteller Hans Christoph Buch.
Im US-Bundesstaat Alabama nimmt ein 65-jähriger, offenbar geistig verwirrter Kriegsveteran einen fünfjährigen Jungen als Geisel, nachdem er einen Schulbus überfallen und den Fahrer, der sich schützend vor die Kinder stellte, getötet hat. Und das nur wenige Wochen, nachdem ein Amokläufer in New Jersey in eine Vorschule eindrang und, wahllos um sich schießend, Schüler und Lehrer ermordete.
Kein Tag vergeht ohne neue Schreckensmeldungen aus Syrien, wo das Assad-Regime, um maximalen Terror zu verbreiten, Spielplätze, Kindergärten und Schulen mit Bomben und Granaten beschießen lässt. Ganz zu schweigen von den Opfern des mexikanischen Drogenkriegs oder von periodisch wiederkehrenden Enthüllungen über Kinderporno-Ringe, die in Internet-Tauschbörsen ihre Produkte verbreiten, wobei jedes Foto und jeder Film unfassbares Leiden fixiert, das nicht nur Körper, sondern auch Seelen zerstört.
In was für einer Welt leben wir? Wie sind solche Zivilisationsbrüche zu erklären und was ist geschehen, dass die um sich greifende Verrohung, ja Verwahrlosung auch diese letzte Grenze überschritten hat und kein religiöses oder moralisches Tabu mehr respektiert? Tu, was Du willst - anything goes: Oder war die Menschheit schon immer dermaßen bestialisiert?
Vieles, ja fast alles deutet in diese Richtung: Vom rituellen Kannibalismus über die Moorleichen in Skandinavien und die Menschenopfer der Azteken, von Kinderkreuzzügen über Hexen- und Ketzerprozesse bis zu den Gräueln der Sklaverei und den Massenmorden in Treblinka, wo jüdische Babys lebend ins Feuer geworfen wurden, war Menschlichkeit nie die Regel, sondern die Ausnahme.
Und doch ist es unakzeptabel, ja empörend, das Wolfsgesetz zur anthropologischen Konstante zu erklären nach dem Motto "homo homini lupus", der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.
Kehren wir noch einmal zum Ausgangspunkt dieser Überlegungen zurück. Was ist zu halten von einer Gesellschaft, die die Zukunft ihrer Kinder der Gegenwart opfert und Millionen Jugendlicher ohne Berufsperspektive aus der Schule entlässt? Heute ist in Spanien, Italien und Griechenland mehr als die Hälfte der jungen Generation arbeitslos.
Gleichzeitig wird die Homo-Ehe oder der Altherrenwitz eines Politikers zum Problem aufgebauscht, das die meinungsbildenden Medien beschäftigt, als gäbe es nichts Wichtigeres zu tun. Ist das Thema Jugendarbeitslosigkeit nicht sexy genug, oder ist es den Schweiß der Edlen nicht wert, selbst wenn es Politikverdrossenheit, Europamüdigkeit und Hass auf die Demokratie erzeugt?
Geht es uns nichts an, wenn junge Deutsche, die von Haus aus keine Extremisten sind, zum Salafismus übertreten oder sich Neonazi-Gruppen anschließen? Bringt ein freiheitlicher Staat wie die Bundesrepublik seine eigenen Verächter hervor, so wie die Vorsorgeuntersuchung gegen Krebs selbst Krebs erzeugt?
Dazu hat Franz Kafka das Entscheidende gesagt, wenn er am Schluss des Prozess-Romans schreibt:
"War noch Hilfe? Gab es Einwände, die man vergessen hatte? Gewiss gab es solche. Die Logik ist zwar unerschütterlich, aber einem Menschen, der leben will, widersteht sie nicht."
Hans Christoph Buch, 1944 in Wetzlar geboren, wuchs in Wiesbaden und Marseille auf und las im Jahr seines Abiturs (1963) bereits vor der Gruppe 47. Mit 22 Jahren veröffentlichte er seine Geschichtensammlung "Unerhörte Begebenheiten". Ende der 60er Jahre verschaffte er sich Gehör als Herausgeber theoretischer Schriften, von Dokumentationen und Anthologien.
Auch mit seinen Essays versuchte er, politisches und ästhetisches Engagement miteinander zu versöhnen. Erst 1984 erschien sein Romandebüt: "Die Hochzeit von Port au Prince". Sein Roman "Apokalypse Afrika" erschien 2011 in der Anderen Bibliothek, der Essay "Haiti - Nachruf auf einen gescheiterten Staat" 2010 bei Wagenbach.
Kein Tag vergeht ohne neue Schreckensmeldungen aus Syrien, wo das Assad-Regime, um maximalen Terror zu verbreiten, Spielplätze, Kindergärten und Schulen mit Bomben und Granaten beschießen lässt. Ganz zu schweigen von den Opfern des mexikanischen Drogenkriegs oder von periodisch wiederkehrenden Enthüllungen über Kinderporno-Ringe, die in Internet-Tauschbörsen ihre Produkte verbreiten, wobei jedes Foto und jeder Film unfassbares Leiden fixiert, das nicht nur Körper, sondern auch Seelen zerstört.
In was für einer Welt leben wir? Wie sind solche Zivilisationsbrüche zu erklären und was ist geschehen, dass die um sich greifende Verrohung, ja Verwahrlosung auch diese letzte Grenze überschritten hat und kein religiöses oder moralisches Tabu mehr respektiert? Tu, was Du willst - anything goes: Oder war die Menschheit schon immer dermaßen bestialisiert?
Vieles, ja fast alles deutet in diese Richtung: Vom rituellen Kannibalismus über die Moorleichen in Skandinavien und die Menschenopfer der Azteken, von Kinderkreuzzügen über Hexen- und Ketzerprozesse bis zu den Gräueln der Sklaverei und den Massenmorden in Treblinka, wo jüdische Babys lebend ins Feuer geworfen wurden, war Menschlichkeit nie die Regel, sondern die Ausnahme.
Und doch ist es unakzeptabel, ja empörend, das Wolfsgesetz zur anthropologischen Konstante zu erklären nach dem Motto "homo homini lupus", der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.
Kehren wir noch einmal zum Ausgangspunkt dieser Überlegungen zurück. Was ist zu halten von einer Gesellschaft, die die Zukunft ihrer Kinder der Gegenwart opfert und Millionen Jugendlicher ohne Berufsperspektive aus der Schule entlässt? Heute ist in Spanien, Italien und Griechenland mehr als die Hälfte der jungen Generation arbeitslos.
Gleichzeitig wird die Homo-Ehe oder der Altherrenwitz eines Politikers zum Problem aufgebauscht, das die meinungsbildenden Medien beschäftigt, als gäbe es nichts Wichtigeres zu tun. Ist das Thema Jugendarbeitslosigkeit nicht sexy genug, oder ist es den Schweiß der Edlen nicht wert, selbst wenn es Politikverdrossenheit, Europamüdigkeit und Hass auf die Demokratie erzeugt?
Geht es uns nichts an, wenn junge Deutsche, die von Haus aus keine Extremisten sind, zum Salafismus übertreten oder sich Neonazi-Gruppen anschließen? Bringt ein freiheitlicher Staat wie die Bundesrepublik seine eigenen Verächter hervor, so wie die Vorsorgeuntersuchung gegen Krebs selbst Krebs erzeugt?
Dazu hat Franz Kafka das Entscheidende gesagt, wenn er am Schluss des Prozess-Romans schreibt:
"War noch Hilfe? Gab es Einwände, die man vergessen hatte? Gewiss gab es solche. Die Logik ist zwar unerschütterlich, aber einem Menschen, der leben will, widersteht sie nicht."
Hans Christoph Buch, 1944 in Wetzlar geboren, wuchs in Wiesbaden und Marseille auf und las im Jahr seines Abiturs (1963) bereits vor der Gruppe 47. Mit 22 Jahren veröffentlichte er seine Geschichtensammlung "Unerhörte Begebenheiten". Ende der 60er Jahre verschaffte er sich Gehör als Herausgeber theoretischer Schriften, von Dokumentationen und Anthologien.
Auch mit seinen Essays versuchte er, politisches und ästhetisches Engagement miteinander zu versöhnen. Erst 1984 erschien sein Romandebüt: "Die Hochzeit von Port au Prince". Sein Roman "Apokalypse Afrika" erschien 2011 in der Anderen Bibliothek, der Essay "Haiti - Nachruf auf einen gescheiterten Staat" 2010 bei Wagenbach.