Die Idee der Gartenstadt lebt weiter, soll aber an heutige Anforderungen angepasst werden. Das Land Berlin will 16 neue Stadtquartiere mit 52.000 Wohnungen in den nächsten zehn Jahren schaffen. Die Gartenstadt ist dafür ein Vorbild. Aber der Begriff muss weitergedacht werden, denn mit der Klimaresilienz gebe es neue Anforderungen, sagt Stadtentwicklungssenator Sebastian Scheel. [AUDIO]
Die Renaissance der Gartenstadt
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Die Antwort auf die heutige Wohnungsmisere könnte in einer über 100 Jahre alten Idee liegen. Vor den Toren der Städte entstanden damals neue Siedlungen. Die Gartenstadt Falkenberg bei Berlin ist heute Weltkulturerbe und ein architektonisches Kleinod.
Elly Rasokat blättert in einem riesigen Fotoalbum. Sie und ihr Ehemann sind so etwas wie das Gedächtnis der Gartenstadt Falkenberg. Max Rasokat lebt seit seiner Geburt hier, seit 1945. Seine Großeltern gehörten zu den ersten Bewohnern, erzählt er. "1913, als die Siedlung gebaut wurde, waren Rixdorf und Neukölln keine angesagten Bezirke. Sie wollten nach außerhalb."
Zu viert auf 60 Quadratmetern
Raus aus den Mietskasernen, rein ins Kleine-Leute-Glück auf dem Land. Die Siedlung vor den Toren der Stadt verspricht damals Wohnungen in Ein- und Mehrfamilienhäusern - zwischen 40 und 100 Quadratmeter groß. Ausgestattet sind die Häuser mit Bad und WC, was 1913 längst nicht selbstverständlich ist. Dazu ein kleiner Garten für Obst- und Gemüseanbau. Max‘ Ehefrau Elly stößt sehr viel später dazu.
"Ich habe ein Stück weiter in Altglienicke gewohnt. Wenn man zum Bahnhof geht, hat man die Siedlung gesehen. Da habe ich gesagt: 'Oh, hier möchte ich auch mal herziehen. Da muss ich mir doch jemanden suchen, der hier wohnt. Das hat dann auch geklappt‘."
Das ist 1974. Die beiden heiraten und bekommen zwei Kinder. Zu viert leben sie auf 60 Quadratmetern. Im Erdgeschoss liegen die große Wohnküche und das WC, im Obergeschoss ein kleines Schlafzimmer, ein kleines Kinderzimmer und ein kleines Bad.
Lebenslanges Wohnrecht
"Das ganze Leben spielt sich mehr oder weniger draußen ab. Das sind die Wintermonate, wo man mehr drin ist, aber ansonsten waren die Kinder immer hier draußen. Uns ist es nicht aufgefallen, dass es so beengt war."
Jetzt spielen die Enkelkinder im Garten. Die mittlerweile fünfte Generation. Dass die Familie seit über einhundert Jahren der Gartenstadt treu geblieben ist, hat viele Gründe. Neben der Mitgliedschaft in der Genossenschaft ist für Elly Rasokat auch die geringe Miete ausschlaggebend. Zurzeit zahlen sie 468 Euro warm, erzählt sie.
"Man ist abgesichert. Man hat ein lebenslanges Wohnrecht. Wo gibt's denn das schon? Ich finde die Art dieses Wohnens, also genossenschaftliches, das ist schon sehr angenehm."
Ein elitärer, konspirativer Geist
1910 gründen die Initiatoren des geplanten Gartenstadt-Projekts eine Baugenossenschaft, um die Finanzierung gemeinschaftlich zu organisieren, erzählt die Architekturhistorikerin Renate Amann:
"Das waren Reformer aus verschiedenen Bereichen, auch Alternative, wie wir heute sagen würden. Es war eine neue Szene. Die hatte sich dieses Projekt vorgenommen und im Falkenberg – Falkenberg ist so eine kleine Anhöhe – also bei Grünau das Baugrundstück gefunden. Mit vielen Widerständen kämpften sie gegen die Großgrundbesitzer, weil die eigentlich lieber Villenbewohner gehabt hätten."
Amann hat für die Berliner Bau- und Wohnungsgenossenschaft 1892 eG, in dessen Besitz die Gartenstadt Falkenberg seit 1919 ist, zu dem Thema geforscht. Ein leicht elitärer, konspirativer Geist umweht die ersten Bewohner, erzählt sie. Vom Metallarbeiter über Lokomotivführer und Kunstmaler bis hin zu Studienrat und Fabrikdirektor sind viele verschiedene Berufe unter den Genossenschaftsmitgliedern vertreten.
Ein weiterer wichtiger Grund, warum die Gartenstadt so attraktiv ist, sind die bunten Häuserfassaden des damals noch jungen Architekten Bruno Taut. Von tiefschwarz bis himmelblau, dazu im Kontrast die Fensterläden von knallrot bis grellgelb. Schnell bekommt das Quartier den Spitznamen "Tuschkastensiedlung".
Die Farbigkeit der Häuser
"An die Farben musste ich mich erst mal ein bisschen gewöhnen", sagt Elly Rasokat. Sie habe noch nie diese Farbigkeit von Häusern so gesehen. Das sei das Ungewöhnliche der Siedlung. "Mit Blau konnte ich mich nicht so anfreunden, Blau ist auch nicht meine Farbe."
Ursprünglich sind in der Tuschkastensiedlung 1.500 Wohnungen geplant. Der Erste Weltkrieg kommt dazwischen. Fertiggestellt werden lediglich 134 Wohnungen. Sie verteilen sich auf ein gutes Dutzend Häuser rund um einen kleinen Platz mit Bäumen und auf die vor- und zurückspringenden Reihen- und Mehrfamilienhäuser im angrenzenden Gartenstadtweg. Die Pflanzen und Obstbäume in den Gärten harmonieren mit den Farben der Fassaden.
"Es ist nicht nur die Architektur von Bruno Taut, sondern auch dessen Zusammenspiel mit Ludwig Lesser, dem Gartenarchitekt", erklärt Amann. Der Außenwohnraum in der Gartenstadt sei genauso wichtig, wie der Innenraum. Dass die beiden das so komponiert haben, bedeute auch, dass nicht jeder Bewohner pflanzen konnte, wie er wollte. Es gab Regeln. "Das Gesamtbild in der Tuschkastensiedlung mit den Farben und dem Grün ist sozusagen ein Gemälde als Ganzes."
Nackte Dame in der Badewanne
Legendär sind schließlich auch die Siedlungsfeste, die die Bewohnerinnen und Bewohner in den 1920er-Jahren feiern. Sie führen Theaterstücke auf, dichten eine eigene Hymne, ein Chor singt. Bis zu 4.000 Menschen besuchen die Straßenfeste, erzählt Max Rasokat.
"Die Türen waren alle offen. Wenn jemand pullern gehen musste, dann ist er auf die Toilette gegangen. Es war alles offen. Aber zu klauen gab es auch nüscht hier. Und als die Feste waren, da hat auch eine nackte Dame in der Badewanne gesessen, die sich abgekühlt hat. Hat Opa gesagt damals, wurde überliefert."
Das Bewusstsein für den Wert dessen, was die Vorfahren vor mehr als einhundert Jahren geschaffen haben, ist immer noch da. Weil zu DDR-Zeiten die staatlichen Mittel fehlen, halten die Bewohnerinnen und Bewohner ihre Wohnungen weitgehend selbst in Schuss. 1991 übernimmt die Berliner Bau- und Wohnungsgenossenschaft 1892 eG wieder die Verwaltung. Max Rasokat ist froh darüber.
Aufwendige Sanierung der Siedlung
"Die Farben, die hätten Sie im Osten sehen sollen. Da wurde nichts mehr gemacht, die waren verblasst, es sah nicht mehr schön aus. Jetzt haben sie es so wiederhergerichtet, wie es 1914 ursprünglich mal war. Jetzt wird die Anlage gepflegt, die Bäume, die Robinien. Das ist jetzt natürlich schön."
Aufwendig lässt die Genossenschaft die Tuschkastensiedlung sanieren. Unter anderem werden die Farben rekonstruiert, verloren gegangene Originaltüren und -fenster nach historischem Vorbild nachgebaut. Ein buntes Meisterwerk. 2008 wird die Gartenstadt Falkenberg mit fünf weiteren Siedlungen der Berliner Moderne in die Welterbeliste der UNESCO aufgenommen.
Die Architekturhistorikerin Renate Amann ist überzeugt: Die Idee der Gartenstadt als Alternative zur beengten Wohnform in der Großstadt ist ohne einen gemeinwohlorientierten Träger kaum denkbar.
Nichts für Spekulanten
"Wir wissen von anderen Gartenstädten, die verkauft und privatisiert wurden, da ist der Träger verschwunden. Da macht jeder seins. Da würde man nie so eine Idee von gemeinsamer Gestaltung kriegen oder von gemeinsamen Kompromissen und auch Mietsicherheit.
Reiche können hier nicht spekulieren, sondern es gibt immer noch Mieten in der alten Gartenstadt, die sind um vier Euro. Die sind sicher und die Mieter können dort lebenslang wohnen. In ihrer gewohnten Heimat, das ist was ganz Großartiges."
Ist die Gartenstadt auch ein Modell für die Zukunft? Die Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen sagt: ja. In den Leitlinien für die Planung neuer Stadtquartiere orientiert sie sich an der "Gartenstadt des 21. Jahrhunderts".