Antrittsvorlesung von Édouard Louis in Berlin

"Mein Vater wurde zur Arbeit gezwungen"

Der französische Schriftsteller Édouard Louis
Der französische Schriftsteller Édouard Louis © JOEL SAGET / AFP
Von Jochen Stöckmann · 02.07.2018
Nach vielen Preisen hat die Freie Universität Berlin Édouard Louis als Samuel-Fischer-Gastprofessor eingeladen. Der Schriftsteller analysierte in seiner Antrittsvorlesung die Rolle der Gewalt: das Thema - "Was kann Literatur tun? Über Scham, Kunst und Politik".
Mit seinem Erstling "Das Ende von Eddy" verpasste der französische Schriftsteller Édouard Louis dem Literaturbetrieb und auch den Lesern nach Meinung der Kritik 2014 einen "Schock": Drastisch schilderte der erst 22-jährige Autor in seinem autobiographisch gefärbten Roman, wie ein homosexueller Junge unter Rassismus, Sexismus und Diskriminierung leidet. Nach zwei weiteren Romanen und Auszeichnungen mit Preisen wie dem Prix Goncourt du premier roman hat die Freie Universität Berlin ihn als Samuel-Fischer-Gastprofessor eingeladen. Das Thema seiner Antrittsvorlesung lautete: "Was kann Literatur tun? Über Scham, Kunst und Politik".
Edouard Louis: "Literatur muss kämpfen – für all jene, die selber nicht kämpfen können, die zum Stillschweigen verdammt sind."

Kritik an Frankreichs Asylpolitik

Wie er kämpft, das hat Édouard Louis bewiesen mit seinem Bestseller "Im Herzen der Gewalt" – der im französischen Original etwas weniger emotional "histoire de la violence", also "Geschichte der Gewalt" heißt. Aber im Grunde geht es um Gefühle, um die Erregung, die Aufregung beim Leser. Oder bei den Hörern seiner Antrittsvorlesung für die Berliner Samuel-Fischer-Professur, denen Louis den Fall eines Schwarzen schildert, der in seiner Heimat Guinea ansehen musste, wie sein homosexueller Freund auf offener Straße lebendig verbrannt wurde. Der danach in Frankreich Asyl beantragte, aber in Abschiebehaft landete. Für den französischen Autor ist das Gewalt, zynische Staats-Gewalt.
Edouard Louis: "Im französischen Knast, weil er schwul ist. Weil er anders leben will."

Zur Arbeit gezwungen

Einer anderen Form von Gewalt, ökonomischen Zwängen, war Louis' Vater ausgeliefert. Der Industriearbeiter musste nach einem schweren Unfall trotz chronischer Schmerzen wieder ans Band. Eine Konsequenz neuer Gesetze, die Präsident Sarkozy euphemistisch "Sozialreform" nannte:
Edouard Louis: "Die Wahrheit ist: Leute wie mein Vater wurden zur Arbeit gezwungen. Trotz angegriffener Gesundheit, trotz allem, was die Fabrik ihm angetan hatte."

Familientrauma schreibend verarbeiten

Schließlich war da auch die Mutter des Schriftstellers: Eine Frau, vom Vater derart gedemütigt, dass der verstörte Achtjährige sie weinend auf dem Sofa zusammensinken sah. Familiäre Gewalt, Gewalt der Verhältnisse. Weitere Formen oder Ausformungen der Gewalt führt der Autor autobiographischer Romane in seinen politischen Essays an – die Louis zu dem Schluss führen:
"Literatur muss sich schämen, denn um sie herum gibt es: Krieg, Klassenunterschiede, männliche Dominanz, Verfolgung von Tieren, Zerstörung."

Authentische Romanfiguren als Ideal

Das geht gegen Kollegen wie den Nobelpreisträger Jean Marie Le Clézio: Den hat Louis gehört, als er in einem Interview erklärte, wie er seine Romanfiguren "konstruiert". Das fand der damals 16-Jährige beschämend, weil mit Vater, Mutter und anderen Erniedrigten, Beleidigten oder prekär lebenden Menschen seiner Umgebung doch ganz "reale" Personen ihren Platz in einem Roman finden sollten. Es gehört sich einfach nicht, harmlos zu schreiben, während in der Welt Gewalt herrscht. Das hat Louis bei Marguerite Duras erkannt, die – mit schlechtem Gewissen und voller Scham – unter dem Titel "Der Schmerz" ein Tagebuch veröffentlichte, dass sie geschrieben hatte, während ihr Mann Robert Antelme im KZ war. Nur hat Duras im Unterschied zu Le Clézio die Konsequenz gezogen:
Edouard Louis: "Scham ist ein Werkzeug, um eine andere Welt aufzubauen. Ich will Literatur nutzen, um Scham in der Welt zu verbreiten."

Mit Büchern die Welt verändern

Denn Scham ging jenen reichen Franzosen ab, die sich und ihren luxuriösen Lebensstil um 1900 in impressionistischen Kunstwerken selbstgefällig gespiegelt sahen, während sie den Tod der Bergarbeiter in den Minen nicht zur Kenntnis nahmen. Immerhin hatte kein Geringerer als Emile Zola darüber im Roman "Germinal" geschrieben.
Edouard Louis: "Man muss so schreiben, in Büchern von Dingen so sprechen, dass sie unerträglich werden für die Bourgeoisie."

Feindbild Bourgeoisie

Auch Zola schrieb engagierte Literatur. Er setzte sich mit dem Aufruf "J’accuse" – ich klage an – für den als Spion verdächtigten Hauptmann Dreyfus ein, gegen antisemitische Hetze und Gewalt. Und lud den "Bourgeois" ein, sich zum "citoyen" zu wandeln, zum Bürger, der für Gemeinwohl und Menschenrechte eintritt. Diesen Ausweg versperrt Édouard Louis sich und manchen seiner Leser mit einem Feindbild, der "Bourgeoisie". Die scheint für ihn der alleinige Verursacher all der Gewalt – und daran dürfte sich nichts mehr ändern.
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