Antrag stattgegeben

Von Esther Dischereit |
Raum 124, Bürgeramt Spandau, Berlin. Im Frühjahr 2008 werden hier 60 Menschen eingebürgert. Zwei gerade 18 Jahre alt gewordene Mädchen beantragten die deutsche Staatsbürgerschaft. Um 11 Uhr morgens wartet Jean Rasie hier. Eine Behördenangestellte ruft einzeln auf.
Später wird eine zweite Beamtin vier Stapel rotwandiger Akten auf dem Flügel im Abgeordnetensaal ablegen. Die Kandidatinnen haben jede 255 Euro bezahlt. "Warum machst du dich so hübsch, Mama", hatte die kleine Schwester am Morgen gesagt. Die Mutter spricht ein paar Worte, diese schnelle Höhe des Bisaya, eine der Sprachen auf den Philippinen. Die Töchter unterhalten sich auf Deutsch und antworten der Mutter auf Bisaya.

Eine Familie arabischer Herkunft ist mit drei Frauen, drei Männern, einem auch achtzehnjährigen Jungen mit Boxerschnitt gekommen, der neunjährige Bruder trägt die palästinensische Kuffiya. Ein Mann lässt eine Kette durch die Finger gleiten. Die Frauen: eine mit, die anderen beiden ohne Kopftuch. Der junge Erwachsene wird später im Saal seine Urkunde in Empfang nehmen. Auf seiner Jacke ist im Rücken "Moabit 21" aufgenäht. Seine Identität ist der Kiez. Und seine libanesische Herkunft, lebend in Berlin, jetzt Deutscher geworden.

Jean Esar und Jean Rasie werden gerufen: Papiere werden ausgebreitet - die Einverständniserklärung. Die Mutter filmt, während ihre Kinder unterschreiben. Die letzte Minute, in der sie Philippinerinnen waren. Sie mussten ihre Pässe abgeben. In dieser sechsköpfigen Familie gibt es jetzt drei verschiedene Nationalitäten und Pässe. Nach fast zwei Stunden sitzen die Leute auf Treppenstufen, stehen an den Wänden in Gruppen oder sitzen auf den Holzbänken - wie früher auf dem Sozialamt. Schließlich darf sich die Menge in Bewegung setzen und in einem Saal Platz nehmen: die deutsche Fahne, der Berliner Bär, das Wappen des Bezirks. Der Bezirksbürgermeister: - entschuldigt sich nicht für das Wartenlassen. Sofort geht es los mit den Grundsätzen des Grundgesetzes und der Verfassung. Der Bürger Bürgermeister spricht zu dem Mitbürger, der sich gerade einbürgert. Wann wird der oder die Eingebürgerte eigentlich Bürgerin? Die Aufgabe der eigenen kulturellen Identität werde nicht erwartet. Allerdings: "Wir wollen Sie nicht missionieren, wir wollen aber auch nicht missioniert werden." Gibt der Redner den anwesenden dem Islam Angehörenden zu verstehen. Christen, Juden, Hindus, Buddhisten... dürfte er kaum gemeint haben. Er hätte auch über Religionsfreiheit sprechen können. Hat er nicht. Viele der sozialen Einrichtungen befinden sich hier wie andernorts in christlicher Trägerschaft. Und: unsere "Rechts- und Kulturgemeinschaft" soll bleiben wie sie ist. Der Bezirksbürgermeister holt nochmals aus: Integration eines jeden Einzelnen, egal welcher Herkunft, egal welchen Glaubens, ganz egal, ob Mann oder Frau - an dieser Stelle gibt es im Manuskript achtzehn Ausrufezeichen. "...- und ich betone nochmals - ganz egal (unterstrichen), ob Mann oder Frau." Offenbar ist das an die Adresse der anwesenden Männer türkischer Herkunft gerichtet. Die Formulierung eines Generalverdachts.

Die Zeremonie endet mit dem Anstellen eines Lautsprechers: die dritte Strophe der Nationalhymne. Ist das jetzt etwas Positives, dass Deutschland diese Menschen als Bürger gleichstellen wollte oder ist das ein den Gegebenheiten entsprechendes Muss? Eine unangenehme Begleiterscheinung für ein Land, in dem Einwanderung stattfindet, aber das kein Einwanderungsland sein will? Die Rede war geradezu "weiß", von Europa nichts zu sehen und zu hören. Eine Art Patronatsrede, in der der Herr der "schwarzen" Gemeinde noch mal die Leviten liest.

Sozusagen trotzdem: Antrag stattgegeben im Sinne des Art. 116. Vor dem Rathaus ruft Jean Rasie ihren deutsch-polnischen Freund an: "Ich bin jetzt Deutsche." Die jahrelange Aufregung um die Aufenthaltserlaubnis ist vorbei. Jetzt muss sie die Schule meistern. Seit ihren ersten Schultagen in Deutschland zieht sich die mangelnde Förderung für dieses Dreisprachenkind durch. Die strukturelle Ausgrenzungsproblematik bleibt. "Teilhabearmut" nannte jüngst Peter Neher, Präsident des Deutschen Caritasverbandes, diese anhaltende Qualifizierungsverweigerung gegenüber Jugendlichen aus bildungsfernen Familien und mit Migrationshintergrund. Hierbei handelt es sich nicht nur um ein Verspielen von Human Ressources, die inzwischen wieder als fachlich Qualifizierte gebraucht werden, sondern auch um die Frage, wer darf "Teilhaben": an der Gestaltung des eigenen Lebensentwurfs.

Esther Dischereit, 1952 in Heppenheim/a.d.B. geboren; Studium in Frankfurt am Main; Ausbildung zur Pädagogin; Kuratorin für den Deutschen Gewerkschaftsbund, Berlin: contemporary art/new media; 1995 Fellow am Moses-Mendelssohn-Zentrum für europäisch-jüdische Studien in Potsdam. Ab 1996 Gastlesungen an der University of Massachusetts, Amherst, Washington University of St. Louis, Cornell-University, Ithaca, MIT, Boston, University of California, Berkeley, Princeton University u.a. in USA und Kanada. Esther Dischereit erhielt zahlreiche Auszeichnungen und Stipendien. Jüngste Arbeiten: Theater: "Heimat 24", Potsdam, 2005; Film: "Ein Kleid aus Warschau", Drehbuch zus. mit Michal Otlowski Warschau/Berlin 2007. Bücher: "Der Morgen an dem der Zeitungsträger", Erzählungen, Suhrkamp, Frankfurt a.M., (2007), "Im Toaster steckt eine Scheibe Brot", Vorwerk 8, Berlin (2007)