"Antonioni verführt zum Sehen"

Moderation: Holger Hettinger · 31.07.2007
Nach Ansicht des Filmkritikers Peter W. Jansen hat der verstorbene Regisseur Michelangelo Antonioni die herkömmliche Dramaturgie des Erzählfilms verändert. Antonioni habe für ein neues Sehen plädiert und damit großen Einfluss auf die Regisseure der Nouvelle Vague gehabt. Sein bekanntester Film, "Blow Up", entfalte in der heutigen Bilderflut enorme Wirkung durch die Konzentration auf ein einzelnes Bild.
Hettinger Vor 14 Tagen war er zuletzt noch mal so richtig im Gespräch. Pünktlich zum 40. Jubiläum ist Michelangelo Antonionis Filmklassiker "Blow Up" mit neuen Kopien in die Kinos gekommen und die Filmwelt hat sich beim Wiedersehen gewundert, wie bestürzend aktuell Antonionis Meisterwerk aus dem Jahr 1966 heute noch wirkt. Heute dann kam die Meldung, Michelangelo Antonioni ist tot, gestorben bereits am gestrigen Montag, am gleichen Tag wie sein Kollege Ingmar Bergman. Über Leben und Werk von Antonioni sprechen wir nun mit dem Filmkritiker Peter W. Jansen. Schönen guten Tag, Herr Jansen.

Peter W. Jansen: Ja, guten Tag.

Hettinger Herr Jansen - "Blow Up" aus dem Jahr 1966 und der 1970 gedrehte Film "Zabriskie Point" gelten als die zentralen Meisterwerke von Michelangelo Antonioni. Die Filme tauchen in so ziemlich jedem Kanon der wichtigsten Filme auf. Was macht sie so bedeutsam?

Jansen: Ja, wir müssen bedenken, dass das sozusagen die, na, der zweite Anlauf von Antonioni ist. Davor gibt es noch einen anderen, über den ich auch gerne mit Ihnen sprechen würde. Was also diese beiden Filme ausmacht ist, dass sich Antonioni sehr stark eingelassen hat auf die neue Wahrnehmung durch eine neue Generation. Sie wissen, dass "Blow Up" vor allen Dingen im "Swinging London" spielt, der Fotograf in "Blow Up", der die Hauptrolle spielt, ist ein Anhänger des Swinging London und er lebt auch so. Und ähnlich geht es in "Zabriskie Point", geht es also auch um die Popmusik und auch um die Wahrnehmung. Und die Wahrnehmung, das Sehen, ist für Antonioni immer ein zentrales Thema gewesen und er hat also für ein neues Sehen plädiert und ein Sehen, das anders ist als im bisherigen Kino und damit hatte er mindestens zu Anfang seiner Karriere auch seine großen Schwierigkeiten. Er ist 1960 für den Film "L'Aventura" in Cannes ausgepfiffen worden.

Hettinger Sie sagen, das war der zweite Anlauf, "Blow Up" 1966, "Zabriskie Point" 1970, was war der erste?

Jansen: Na ja, die anderen waren eben "L'Aventura" und "La Notte" und die verschiedenen Filme, die er am Anfang gemacht hat, die auch zum Teil Schwarzweißfilme sind. Er hat ja angefangen mit einem Dokumentarfilm von 1942 "Gente del po" - Menschen am Po -, und dann war er also eben an der Spitze der Avantgarde mit auch mit den Filmen wie "Freundinnen" und "Der Schrei" und vor allen Dingen die jungen Franzosen der Nouvelle Vague, also Godard, Rivette, Rohmer, Chabrol, die haben sofort erkannt, dass da etwas Neues ist, etwas, was also die herkömmliche Dramaturgie des Erzählfilms verändert und die also nicht mehr darauf aus ist, den Zuschauer zu überrumpeln, sondern den Zuschauer einzuladen, mitzusehen.

Man denke zum Beispiel jetzt also besonders an eine Sequenz in dem Film "Die Nacht", da lässt er Jeanne Moreau 12 oder 14 Minuten lang allein durch Mailand laufen und es passiert nichts. Man sieht nur ändernde Gegenden, sich ändernde Straßen, andere Kulissen und es passiert im Grunde genommen nichts. Das ist eine ganz lang durchgedrehte Einstellung, und damit hat er natürlich das Sehen provoziert. Man wird provoziert, sich etwas anzugucken und nicht also drauf aus zu sein, dass man wieder von einem neuen Bild überrascht wird.

Hettinger Hat Michelangelo Antonioni den Ruf eines kompletten Revoluzzers, also hat er komplett mit diesen alten Sehgewohnheiten gebrochen oder gab es auch Elemente, an die er anknüpfen konnte?

Jansen: Natürlich gab es auch Elemente, an die er anknüpfen konnte, so absolut kann man natürlich, wenn man Spielfilme macht oder Filme macht, nicht brechen. Das gibt es natürlich bei ihm auch, aber es ist immer eine Eigenart, also, einen Antonionifilm zu sehen, wenn man einmal einen Antonionifilm gesehen hat, sieht man die anderen auch und weiß sofort, das kann von niemandem anderen sein als von Antonioni.

Er ist also sehr, sehr typisch gewesen, ein Mann, der ja also eine sehr interessante Erscheinung war, er war mittelgroß, fast drahtig, fast alterslos, und er sah eher aus wie ein Gelehrter, als jemand, der sich mit Kunst beschäftigt. Und das war so auch sein Hintergrund. Er hat ja auch geschrieben, er hat auch gemalt, er war der Sohn eines Gutsbesitzers und er hat also immer gesagt, er kann nur Filme über die Klasse machen, der er selber entstammt und deswegen sind seine Filme, zum Beispiel also der letzte Film, den er mit Hilfe von Wim Wenders gemacht hat, "Jenseits der Wolken", sind die auch so, sagen wir mal, ein bisschen schick und geschmackverirrt, also, wie in einer Welt von Armani und Versace. Und er hat auch immer wieder gesagt, seine Helden stellt er lieber in ein reiches, wohlhabendes Milieu, weil man so die Gefühle nicht wie bei den armen Klassen durch materielle und praktische Zufälle als bedingt erscheinen lässt.

Hettinger Inwieweit war Michelangelo Antonioni ästhetisch wegweisend?

Jansen: Ja, ich sagte schon, also, ästhetisch wegweisend war er vor allen Dingen also im Film der jüngeren Generationen, so wie die Nouvelle Vague in Frankreich, die ja auch nicht ohne Folgen blieb in Europa und er war ästhetisch wegweisend, sagen wir mal, genauso wie Ingmar Bergman, er ist unverwechselbar ein europäischer Regisseur. Er hat eine europäische Filmsprache, europäische Bildersprache, so wie Ingmar Bergman. Und dass die beiden also so kurz hintereinander gestorben sind, das ist also eigentlich ein furchtbares Ereignis.

Hettinger In den späten 60ern wurde Michelangelo Antonioni kritisiert, polierten Trash zu erzeugen. Pauline Kael hat das in einer aufsehenerregenden Tirade behauptet. Wie ist dieser Vorwurf heute zu sehen?

Jansen: Na ja, er hat also natürlich auch Werbefilme gemacht, Reklamefilme gemacht. Er musste ja von irgendetwas leben. Und er hat dann also einen Film gemacht, der heißt "Identifikation einer Frau", und danach kamen dann also dann die Schlaganfälle, Schlag um Schlag, und ich erinnere mich, dass wir schon vor 20, 25 Jahren daran gedacht haben, jetzt gleich müssen wir Antonioni beerdigen. Er hat also wunderbar überlebt.

Hettinger Gibt es so etwas wie die Erben von Antonioni? Hat er Filmemacher beeinflusst in seiner Ästhetik?

Jansen: Ja, also ich sagte ja schon, die Nouvelle Vague und was also von den Franzosen ausgegangen ist. Man kann also hingehen bis also zu den Schweden und den Dänen vor allen Dingen, die also sehr stark von der Filmsprache Antonionis profitieren, ohne es also unbedingt zu sagen oder deutlich zu machen, aber man merkt, dass da, also dahinter eine Entwicklung steht, die nicht von ungefähr kommt, sondern die also mit Antonioni und Ingmar Bergman zu tun hat.

Hettinger Jetzt vor kurzem, vor 14 Tagen, kam "Blow Up" mit neuen Kopien in die Kinos. Die Programmkinos haben dieses Angebot bereitwillig angenommen und man hat in den Zeitungen gelesen, dass sich viele Kritiker erstaunt darüber gezeigt haben, wie aktuell, wie aufregend und wie packend diese Bildsprache heute noch ist. Woran liegt das?

Jansen: Ja, das liegt daran, dass man sicher also durch die Bilderflut im Fernsehen und im Kino inzwischen also dermaßen zugedonnert ist mit Bildern, dass man die Aufmerksamkeit für ein einzelnes Bild als eben besonders aufregend und besonders sensationell empfindet. Sie wissen ja, dass in "Blow Up" ein Bild, eine Fotografie, die vergrößert wird und dann in der Vergrößerung Veränderungen zeigt, eine zentrale Rolle spielt.

Hettinger Weil der Fotograf darauf glaubt, ein Verbrechen zu erkennen, und man weiß irgendwann nicht, ist das alles Phantasie, geht das in seinem Kopf vor, oder ist es wirklich.

Jansen: So ist es. So etwas an Konzentration auf ein einzelnes Bild ist etwas, was das heutige Fernsehen und das heutige Kino, denken Sie mal an die schnellen Schnitte in Harry Potter und so weiter, das heutige Kino überhaupt nicht mehr zulässt.

Hettinger Sie haben es eben gesagt, 1995 hat Antonioni zuletzt Regie geführt, zusammen mit Wim Wenders, "Jenseits der Wolken" hieß der Film. Das war vor zwölf Jahren. Was hat Antonioni in den letzten Jahren gemacht?

Jansen: Nun, er hat also Erzählungen geschrieben, er hat gezeichnet, soweit er das überhaupt also mit seiner Lähmung, er war ja sehr stark behindert durch die Schlaganfälle, er konnte gar nicht mehr sprechen und konnte kaum noch gehen, also, er hat sich vor allen Dingen mit seinen Erzählungen und Zeichnungen ... Ich bin auch gespannt, irgendwann werden wir auch irgendwas erfahren darüber. Er hat das, also, er ist ein sehr diskreter Mann gewesen, er hat sich nie in den Vordergrund gestellt, und es wird also dann noch eine Überraschung in den nächsten Jahren sein, was Antonioni hinterlassen hat. Einen Film jedenfalls, einen weiteren Film, hat er jedenfalls nicht hinterlassen.

Hettinger Es hat mich ein wenig überrascht, dass Antonioni eigentlich relativ spät erst ausgezeichnet wurde, 95 in Venedig, 95 auch den Lifetime Achievement Award, den Ehren-Oskar für das Lebenswerk. Wie war das Verhältnis von Antonioni zu den Auszeichnungen?

Jansen: Na ja, also, ich meine, er hatte wohl nichts gegen Auszeichnungen. Ich habe ihn also auch mal in Venedig erlebt, da gab es also eine kleine Retrospektive Antonioni, und die hat er sich also gerne in Venedig angesehen oder war auch immer wieder mal im Kino, um sich seine eigenen Filme anzusehen.

Ja, also, wie kommt das? Also, das ist eine kaum zu beantwortende Frage, wie also so die späte Anerkennung gekommen ist. Er hat sich durchgesetzt, man hat irgendwann gemerkt, dass da etwas ist, was also ganz anders ist als das, was man normalerweise im Kino erfährt, im Mainstream-Kino ist das ja ganz anders, da wird man ja, wie gesagt, zugedonnert mit Bildern und verführt durch Bilder. Antonioni verführt nicht durch Bilder, sondern er verführt zum Sehen, zum Wahrnehmen.

Hettinger Der Filmkritiker Peter W. Jansen über den italienischen Filmemacher Michelangelo Antonioni. Der Meisterregisseur ist gestern gestorben, wie nun bekannt wurde, er wurde 94 Jahre alt. Ich danke Ihnen sehr.