Antje Schrupp: Vote For Victoria!
Das wilde Leben von Amerikas erster Präsidentschaftskandidatin Victoria Woodhull (1838-1927)
Ulrike Helmer Verlag, Sulzbach/Taunus 2016
140 Seiten, Paperback, 12,95 Euro
Sexuell frei und hochintelligent
Hillary Clinton ist nicht die erste Frau, die versucht, bei der Präsidentenwahl in den USA anzutreten. Bereits 1870 hatte Victoria Woodhull ihre Kandidatur für die Präsidentschaft verkündet. Antje Schrupps Biografie "Vote For Victoria!" hat es in sich.
Diese Woche tritt, wenn alles nach ihrem Plan läuft, zum ersten Mal eine Frau an, Präsident der USA zu werden. Moment – wirklich? Nein: Hillary Rodham Clinton ist nur die zweite. Immerhin darf sie diesmal wohl auch antreten. Bei ihrem ersten Versuch hatte ihre Partei dann doch lieber den schwarzen Mann als die weiße Frau nominiert. Geschichtsbewusste Zeitgenossen fühlten sich 2008 prompt an die "Negro's Hour" von 1866 erinnert.
Damals war erstmals das Wort male in einen Verfassungszusatz eingeführt und damit die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts in Verfassungsrang erhoben worden. Das hatte die bis dato vereinten Freiheitsbewegungen schwarzer und weißer Männer und Frauen brutal gespalten, denn mit jenem 14th Amendment bekamen zwar endlich die schwarzen Männer das Wahlrecht, den schwarzen und weißen Frauen aber, die jahrzehntelang mit ihnen dafür gekämpft hatten, blieb es verwehrt bis 1920.
Kandidatur per Zeitungsannonce
Soviel, sehr knapp, zum historischen Hallraum der anstehenden "Woman's Hour". 1870, lange vor Mrs. Clinton, hatte Victoria Woodhull, geb. Claflin, als tatsächlich erste Frau ihre Kandidatur für die Präsidentschaft verkündet: per Zeitungsannonce, von keiner Partei nominiert. Sie plante sogar die Gründung einer neuen. Sie fand Demokraten wie Republikaner ungeeignet für die Lösung der wirklichen Probleme, die weit über das Wahlrecht hinausgingen. "Vote for Victoria!" stand für radikale Sozialreformen – Achtstundentag, Lohngleichheit, Wohlfahrts-, Bildungs- und Gesundheitssysteme –, gegen Rassismus, sexuelle Gewalt, die Todesstrafe, für eine liberale Sexualpolitik – freie Liebe ohne Ehegesetze, stattdessen Verhütung und Aufklärung – und gegen Kriminalisierung von Prostitution und Abtreibung.
Der moderne Begriff für die politische Bündelung einzelner Diskriminierungsmerkmale ist Intersektionalität. Antje Schrupp bezeichnet Victoria Woodhull deshalb zurecht als "intersektionale Feministin avant la lettre". Und deren Biographie hat es in sich. Sie war nämlich ein – tja: Gossen-Gör, geboren 1838 als siebtes von zehn Kindern der raufenden, saufenden, kleinkriminellen Claflins, die heute unter "bildungsfernes Prekariat" laufen würden. Nie zum "anständigen Frausein" erzogen, sehr wohl aber trainiert im Überleben nach allen eigenen Kräften, charismatisch bis zu theatralischster Spökenkiekerei (Spiritismus war auch damals in den USA en vogue), sexuell frei, hochintelligent.
Spannend geschrieben, faszinierend, informativ
Die erste Brokerin der Wall Street und Zeitungsmacherin, eine Selfmade-Frau, die ihren Erfolg der treuen Kooperation mit ein paar anderen Frauen und nicht zuletzt (und nie verhohlen) auch Sexworkerinnen verdankte, deren Kollegin sie ebenfalls mal gewesen war. Eine, die sich mit den mächtigsten Moralaposteln (auch der Frauenbewegung) anlegte, weil sie Heuchelei verachtete. Und weil sie genug Geld dafür hatte.
Das Porträt dieser Frau und der politischen Zeitgeschichte ist ein page-turner, spannend geschrieben, faszinierend, informativ. "Wir können noch viel von ihr lernen", schreibt Antje Schrupp im Nachwort. Wie wahr. Sicherlich mehr als von Mrs. Clinton.