Antisemitismus-Vorwürfe gegen Carolin Emcke

"Strategische Diskreditierung einer öffentlichen Stimme"

09:35 Minuten
Die Publizistin Carolin Emcke
Villa-Braslavsky: "Es ging wirklich darum, jemanden oder bestimmte Positionen mit Schmutz zu bewerfen". © picture alliance / dpa / Mohssen Assanimoghaddam
Paula-Irene Villa Braslavsky im Gespräch mit Vladimir Balzer · 15.06.2021
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Die Soziologin Paula-Irene Villa Braslavsky kritisiert die massiven Vorwürfe der Springerpresse gegen Carolin Emcke als gezielte Diffamierung. Es habe eine zynische Tragik, dass mit Emcke genau das passiert, wovor sie in ihrer Rede gewarnt hatte.
Nach ihrer Rede auf dem Grünen-Parteitag letzte Woche wurde der Journalistin Carolin Emcke von Seiten der Tageszeitungen "Bild" und "Die Welt" aus dem Springer-Verlag und von CDU-Politikern Geschichtsvergessenheit und Verharmlosung des Holocaust vorgeworfen. Wörtlich hatte Emcke gesagt:
"Die radikale Wissenschaftsfeindlichkeit, die zynische Ausbeutung sozialer Unsicherheit, die populistische Mobilisierung und die Bereitschaft zu Ressentiment und Gewalt werden bleiben. Es wird sicher wieder von Elite gesprochen werden. Und vermutlich werden es dann nicht die Juden und Kosmopoliten, nicht die Feministinnen oder die Virologinnen sein, vor denen gewarnt wird, sondern die Klimaforscherinnen."
In einem offenen Brief unter dem Titel "Gegen die Lügen" haben rund 30 jüdische Intellektuelle Carolin Emcke gegen die Antisemitismus-Vorwürfe in Schutz genommen.
Initiiert hat den Brief die in München lehrende Soziologin Paula-Irene Villa Braslavsky. Sie findet, es habe "eine zynische Tragik", dass nun mit Emcke genau das gemacht werde, wovor die Journalistin in ihrer Rede gewarnt habe, "nämlich vor Verzerrungen und dem willentlichen Zitate falsch Darstellen".

Absichtlich verzerrte Darstellung

"Diese Art von Lüge entsteht durch Pseudo-Halbzitate, die aus dem Kontext genommen werden und gegen jemanden verwendet werden, und wo wirklich absichtlich etwas so verzerrt dargestellt wird, das ist genau das, was Carolin Emcke eben gesagt hat, und das finden wir infam."
Für Villa Braslavsky stellen die Vorwürfe gegen Emcke eine politische Kampagne dar: "Das ist sicherlich kein Missverständnis, sondern eine strategische Diskreditierung und Diffamierung einer öffentlichen Stimme, einer Intellektuellen, die sich ganz klar durchaus als linke, als queere, als feministische Person artikuliert in der Öffentlichkeit. In diesem Fall geht es darum, genau so eine Stimme zu diskreditieren."

Keine Verschärfung der Antisemitismus-Debatte

Dass sich die Antisemitismus-Debatte in Deutschland insgesamt verschärft habe, sieht Villa Braslavsky indes nicht, sondern eher eine "Pluralisierung und interessante Vervielfältigung der Diskussion". Das habe einerseits mit Social Media zu tun, "sodass sehr viel mehr Menschen mitsprechen, sehr viel mehr Stimmen Gehör finden und dadurch sehr viel mehr Auseinandersetzung und Konflikt und Debatte ist".
Es habe aber auch viel mit den Veränderungen in den jüdischen Communities in Deutschland selber zu tun, so die Soziologin:
"Ich bin in der Hinsicht sehr positiv und optimistisch, weil wir jetzt in der Bundesrepublik endlich auch eine Vielfalt, eine Pluralisierung, eine Spannbreite, Nuancen jüdischer Stimmen und Positionen sehen, und das ist doch auch etwas Neues."
(abu)

Das Interview im Wortlaut:

Vladimir Balzer: Die Verteidigung von Carolin Emcke ist stärker und breiter, wie es scheint, zahlreiche Autoren und Wissenschaftler haben sie bereits verteidigt, und seit Kurzem gibt es auch einen offenen Brief, unterschrieben von zahlreichen jüdischen Stimmen wie Igor Levit, Max Czollek, und initiiert von der Münchner Soziologin Paula-Irene Villa Braslavsky. Sie hat diesen Brief überschrieben mit "Gegen die Lügen". Sie sprechen von Lügen, das ist ein harter Vorwurf – was sind das für Lügen?

"Zynische Tragik"

Villa Braslavsky: Wir sprechen von Lügen in unserem Statement genau in dem Sinne, in dem Carolin Emcke das auch angesprochen hat, und das ist schon eine Art ironische, zynische Tragik. Das ist genau das, was Carolin Emcke in ihrer knappen Rede ja formuliert und wovor sie gewarnt hat, nämlich vor Verzerrungen und dem durchaus willentlichen Zitate-falsch-Darstellen, auch eine gewisse Wissenschaftsfeindlichkeit.
Dass das genau dann passiert ist mit ihren eigenen Worten, mit ihren Statements, mit ihrer knappen Rede, dass dann daraus gemacht wurde, dass sie nun irgendwie Antisemitismus verharmlose, dass sie das Leid und die Spezifizität des Antisemitismus und das Leid der jüdischen Menschen und diese Verfolgung nun sozusagen nivelliere und gleichsetze und gleichmache mit allen anderen Formen, ob Klimaschutz oder dies oder das, das sei beliebig.
Diese Art von Lüge, die entsteht durch Pseudohalbzitate, die aus dem Kontext genommen werden und gegen jemanden verwendet werden und wo wirklich absichtlich etwas so verzerrt dargestellt wird, das ist genau mit dem passiert, was Carolin Emcke selber gesagt hat. Und das finden wir infam.
Balzer: Also für Sie ist eine richtige Strategie dahinter, oder könnte dem auch vielleicht ein Missverständnis zugrunde liegen, wenn man diesen Satz von Carolin Emcke liest?

Kein Missverständnis, sondern Strategie

Villa Braslavsky: Nein. Ich glaube, jedenfalls für das, was wir öffentlich gesehen haben, was wahrnehmbar war, und zwar sehr groß wahrnehmbar, es sind nicht irgendwelche kleine Twitter-Wellen im Wasserglas, sondern die "Bild", die "Welt" – und ich kann hier wirklich sagen, die Springer-Presse, an der Stelle jedenfalls, aber das ist generell nicht darauf beschränkt – das ist sicher kein Missverständnis, sondern eine inhaltlich überzeugte, aber doch strategische Diskreditierung und ich würde schon sagen Diffamierung einer öffentlichen Stimme, einer öffentlichen Person, einer Intellektuellen, die sich ganz klar durchaus als linke, als queere, als feministische Person in der Öffentlichkeit artikuliert.
Ich denke, in diesem Fall ging es und geht es schon auch darum, genau so eine Stimme zu diffamieren durch dieses infame So-tun, als sei hier sozusagen ein Missverständnis vorgelegen. Ich glaube überhaupt nicht, dass das auf diesem Niveau ein Missverständnis ist.
Dass einzelne Menschen, die die Rede von Carolin Emcke gesehen, gehört, gelesen haben, so gemeinhin das vielleicht missverstehen könnten, das kann ich nicht beurteilen, das kann ich mir durchaus vorstellen, aber das, worum es uns geht, nämlich diese sehr prominente, sichtbare, weithin wahrnehmbare Diffamierung der Person, das ist Absicht.
Balzer: Also keine konkrete Interpretation dieses Satzes und seiner möglichen Missverständnisse, die er vielleicht mit sich bringen könnte, sondern generell eine regelrechte Kampagne, es hätte auch jemand anders treffen können?

Versuch einer Schmutzkampagne

Villa Braslavsky: Es hätte sicherlich jemand anders treffen können, das ist immer möglich. Ich persönlich glaube auch, dass es politisch auch vor allem eher darum ging, die Grünen und einen bestimmten politischen Kontext mit etwas sehr Stinkendem sozusagen zu bewerfen, nämlich dem Antisemitismusvorwurf, auf dass ein übler Gestank hängen bleibt und so auch von dem eigenen Problem ablenkt. Ich glaube, es ging wirklich darum, da jemanden und ein Milieu und einen Kontext, eine Partei und bestimmte Positionen mit Schmutz zu bewerfen.
Was nicht heißt, dass es nicht möglich wäre, über die wirklich auch komplexe Thematik zu diskutieren. Natürlich sollten und können wir gerne – und es geschieht auch vielfach – diskutieren darüber, was das Spezifische des Antisemitismus ist im Kontext, im Geflecht mit, in der Differenz, aber auch in der Analogie zu anderen Formen gruppenbezogener Diffamierung, Feindlichkeit, anderen -ismen, so wie Carolin Emcke das in ihrer Rede ja deutlich gesagt hat. Darüber kann man diskutieren, also wie viel Differenz und wie viel Verschiedenheit ist da und wie das miteinander zusammenhängt.
Aber zu meinen, dass Carolin Emcke da eine Verharmlosung betrieben habe, indem sie auf kulturelle Texturen der Diskriminierung und der Exklusion hinweist, das ist in diesem Kontext, so wie es geschehen ist, wirklich eine Diffamierung oder der Versuch einer Diffamierung.

Veränderung in jüdischen Communities

Balzer: Die Antisemitismusdebatte hat sich ja sehr verschärft in den letzten Jahren, gerade auch im intellektuellen, im akademischen Milieu. Warum?
Villa Braslavsky: Ich nehme das gar nicht so wahr oder nicht nur so wahr. Ich finde es sehr interessant, dass wir einerseits ja eine intensive Diskussion um Antisemitismus auch hierzulande, aber auch in anderen Regionen führen. Das hat vor allem damit zu tun, wie sich die bundesrepublikanische Öffentlichkeit auch verändert, aus verschiedensten Gründen.
Das hat mit Social Media zu tun, sodass sehr viel mehr Menschen mitsprechen, sehr viel mehr Stimmen Gehör finden und dadurch auch sehr viel mehr Auseinandersetzung, Konflikt, Debatte ist. Und darin noch mal speziell hat es beim Antisemitismus sicher auch damit zu tun, dass auch migrantische oder postmigrantische Stimmen wahrnehmbar werden, dass wir uns auch auseinandersetzen – endlich und nach und nach – damit, dass zu unserer Wirklichkeit in Deutschland auch die DDR-Vergangenheit und die Präsenz dessen gehört, was wir heute Ostdeutschland nennen, inklusive einer eigenen, einer spezifischen und auch deutschen Form der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus.
Zu dieser Situation gehört aktuell auch die Veränderung in den jüdischen Communities selber. Das halte ich für enorm wichtig und für noch sehr unterschätzt, also wie sich das jüdische Leben in Deutschland verändert. Ich bin in der Hinsicht sehr positiv und optimistisch, weil wir jetzt nämlich in der Bundesrepublik endlich auch eine Vielfalt, eine Pluralisierung, eine Spannbreite, Nuancen jüdischer Stimmen hören und Positionen sehen, und das ist doch auch etwas Neues.
All das zusammengenommen und viele weitere Dynamiken, die auch international und transnational sind, führen dazu, dass wir erneut und anders und immer wieder über Antisemitismus diskutieren. Ich selber nehme das gar nicht nur als eine Verschärfung wahr, sondern auch als eine Pluralisierung und eine interessante Vervielfältigung dieser Diskussion.
Balzer: Andererseits kann man, glaube ich, schon feststellen, dass Antisemitismus – ich glaube, Hannah Arendt hat das gesagt: "Vor Antisemitismus ist man nur auf dem Mond sicher" – ein Phänomen ist, was seit Jahrhunderten existiert und was einfach nicht aus der Welt zu bekommen ist und was in den letzten Jahren ja vielleicht auch noch einmal stärker geworden ist und vielleicht auch in bestimmten Milieus, wegen mir auch intellektuellen, auch akademischen Milieus, wo man das nicht erwartet hätte, durchaus auch existiert, jetzt mal jenseits der Carolin-Emcke-Debatte. Wie nehmen Sie das wahr?

Antisemitismus hat Sündenbockfunktion

Villa Braslavsky: Antisemitismus ist deswegen sicherlich so beharrlich, weil er immer wieder gut funktioniert für die Sündenbockfunktion, dafür, da so eine Art Verschwörungsglauben zu projizieren, dass es eben eine bestimmte Gruppe von Menschen gibt, die besonders profitieren von einer unübersichtlichen, komplexen internationalen Welt.
Da, wo Menschen ihre Welt klein, überschaubar und fest machen wollen, hat sich dieses Klischee eben schon relativ lange eingebürgert: von den Juden, die Luftmenschen sind, die Kosmopoliten sind, die nicht so richtig hierhin und nicht dorthin und nirgends hingehören.
Und dann, wenn der Populismus, wie wir das jetzt erleben in Europa, in Brasilien, in den USA, an vielen Orten wieder sich ausbreitet, reüssiert, white suprematism auch, dann ist Antisemitismus eine schnell verfügbare Form, eine schnell verfügbare Textur.
Aber es gibt dagegen auch Widerstand. Und dass wir jetzt darüber reden, dass das skandalisierbar wird, dass es auch jetzt am Fall Carolin Emcke durchaus viel Kritik und Auseinandersetzung über diese Form gibt, das zeigt doch auch, dass das so selbstverständlich nicht mehr oder nicht ist.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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