Antisemitismus

Juden – bitte nicht kuschen!

Besucher sitzen während der Verleihung des Paul-Spiegel-Preises in der Düsseldorfer Synagoge.
Sollten Juden die Kippa zu Hause lassen? © dpa / picture alliance / Caroline Seidel
Von Lena Gorelik · 21.04.2015
Wie sollten Juden in Europa mit Antisemitismus umgehen? Aus Angst die Kippa zu Hause lassen? Muslimisch geprägte Stadtteile meiden? Gar nach Israel auswandern? Die russisch-jüdische Autorin Lena Gorelik wirbt für Besonnenheit. Und fordert mehr Selbstbewusstsein statt Angst.
Nachrichten können angsteinflößend wie angstfördernd sein. Und was zuerst war, die Angst oder die Nachricht über die Angst, ist manchmal nicht ganz eindeutig zu beantworten.
Israels Premierminister hat Angst um die Juden, weshalb sie von Benjamin Netanjahu eins ums andere Mal zur Auswanderung ins Gelobte Land aufgefordert werden. Josef Schuster hatte jüngst ebenfalls Angst und warnte, in sogenannten Problemvierteln die Kippa, die traditionelle jüdische Kopfbedeckung, zu tragen.
Ein beängstigender Aufruf der Zentralrates
Auffällig – und beängstigend – ist, dass der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland Unterwürfigkeit einfordert. Kuscht Euch, sagt er, zeigt Euch nicht, das ist Euer einziger Weg hier zu überleben – und ja, leider klingt dieser Aufruf im Jahre 2015 ziemlich dramatisch.
Nachdem man nun jahrelang und gebetsmühlenartig wiederholt hatte, dass die jüdische Gemeinschaft endlich die als Metapher überstrapazierten Koffer ausgepackt habe, wieder Synagogen baue und selbstbewusst auftrete, nachdem man sich darüber gefreut hatte, dass eine neue Generation an die Spitze des Zentralrats trete, wird also angemahnt, dieses Selbstbewusstsein wieder in die Koffer einzupacken.
Das klingt ja, als hätten jene 18 Prozent der Bundesbürger recht, die gegenüber dem "Bielefelder Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung" erklärten, Juden trügen durch ihr Verhalten Mitschuld an ihrer Verfolgung.
Antisemitismus ist kein muslimisches Problem
Antisemitismus ist kein neues, überraschendes oder durch aktuelle Ereignisse hervorgerufenes Problem. Antisemitismus ist kein muslimisches Problem. Es ist eines, das unsere gesamte, multikulturelle wie multireligiöse Gesellschaft betrifft, heute nicht mehr oder weniger als vor fünf oder zehn Jahren.
Das Thema auf bestimmte Stadtviertel, in denen besonders viele Einwohner muslimischen Hintergrunds leben, zu reduzieren, wie es wiederholt geschah, ist nicht nur eine Vereinfachung von Tatsachen, sondern auch eine Abwälzung von Schuld: Wir sind nicht diejenigen, die … wir sind sogar diejenigen, die auf die anderen, die bösen Antisemiten aufmerksam machen.

Damit soll der Judenhass in manchen muslimischen Kreisen keinesfalls verdrängt werden. Unter Muslimen gibt es antijüdische wie antichristliche Stimmungen; aber genauso gibt es antimuslimische wie antijüdische Stimmungen in abendländisch-christlichen Kreisen und antimuslimische wie antichristliche Stimmungen in jüdischen Gemeinden.
Die Empfehlung, nach Israel auszuwandern, oder die Warnung, bestimmte "No-go-Areas" zu beachten, wurden von den Medien augenblicklich dankbar aufgegriffen und beinahe in die Hysterie verzerrt – mit zahlreichen Geschichten über jüdische Ängste.
Verunsicherung und Unruhe werden gesteigert, wo Besonnenheit angebracht wäre
Die Publizistin und Philosophin Carolin Emcke reagierte darauf mit dem Vorschlag: Wir sollten doch alle Kippa tragen, um Solidarität zu demonstrieren. Eine sehr noble wie unnötige Idee, kann doch übereilte Aktivität und übertriebenes Augenmerk die angespannte Haltung seitens aller Beteiligten nur noch verstärken.
Verunsicherung und Unruhe wird gesteigert, wo Besonnenheit angebracht wäre – und ein Glaube daran, was vergangene Jahrzehnte an Selbstbewusstsein geschaffen haben und an gemeinsamer Handlungsfähigkeit.
Vonnöten wäre vielmehr zu überlegen, wie dieses "Anti" entsteht, unabhängig davon, aus welcher Ecke es kommt, das Antijüdische, ferner das Antiislamische, auch das Antichristliche, und vor allem zu überlegen, wie es gemeinsam zu bekämpfen ist.
Lena Gorelik, wurde 1981 in Russland im damaligen Leningrad geboren und kam 1992 zusammen mit ihrer russisch-jüdischen Familie nach Deutschland. Ihre Romane "Meine weißen Nächte", "Hochzeit in Jerusalem" und "Verliebt in Sankt Petersburg" wurden mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Zuletzt erschienen von ihr "Sie können aber gut deutsch", "Lenas Tagebuch" (Herausgeberin) und "Die Listensammlerin".
Die Schriftstellerin und Journalistin Lena Gorelik.
Die Schriftstellerin und Journalistin Lena Gorelik.© picture alliance / dpa / Jens Kalaene
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