Antisemitismus in Deutschland

Eine jüdische Familie in Berlin

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Polizisten vor der Neuen Synagoge im Berliner Stadtbezirk Mitte. © imago/ZUMA Press
Von Tina Hüttl  · 20.03.2017
Gemma Michalski ist in London aufgewachsen, sie lebt jedoch lang genug in Deutschland, um sich nicht mehr zu wundern: Darüber, dass vor dem jüdischen Laden die Polizei parkt. Oder, dass andere sich plötzlich komisch verhalten, wenn sie ihre jüdische Familie erwähnt.
"Als ich hier herzog, hier Jude zu sein, war ein Riesending. Man konnte das nicht mal erwähnen, ohne dass irgendjemand irgendwas sagt. Hier war man was Besonderes. Das mochte ich aber nicht. Warum soll ich das mögen? Ich hatte ein Erbe, das ich vorher nicht hatte."
Gemma Michalski geht schnell - aus Gewohnheit, als Unternehmerin und dreifache Mutter ist einfach nie viel Zeit. Sie ist auf dem Berliner Ku'damm unterwegs, Tischdecken und Servietten für Pessach besorgen. Denn bald kommt die Familie aus New York und England angereist, um in Berlin gemeinsam das Fest der ungesäuerten Brote zu feiern, bei dem man an den Auszug des Volkes Israel aus Ägypten gedenkt.
"Ich versuche dieses Jahr, wie jedes Jahr, aber dieses Jahr noch mehr, weil meine Schwester mich besucht, soviel wie möglich davor zu erledigen ..."
Gemma Michalski ist in London aufgewachsen, sie lebt jedoch lang genug in Deutschland, um sich nicht mehr zu wundern. Darüber, dass vor dem jüdischen Laden die Polizei parkt. Darüber, dass andere sich plötzlich komisch verhalten, wenn sie ihre jüdische Familie erwähnt. Darüber, dass ihre Anwesenheit dann wie ein Vorwurf im Raum steht, sagt sie.
"Und dann kam unvermittelt oft, solche Sprüche wie: Also ich persönlich fühle mich überhaupt nicht schuldig. Also ich habe keine Schuldgefühl, weil ich bin einfach nach dem Krieg geboren, wo ich selbst ja gar keinen Vorwurf gemacht habe. Das stimmt, konnte ich nur sagen."
Verkäuferin: "Was kann ich für Sie tun?"
Gemma: "Ich wollte wissen, was Sie für Pessach-Sachen haben ..."

Gemma verliebte sich in den Sohn eines Holocaust-Überlebenden

Als sie mit Anfang 20 hierher zog, dachte sie nie daran zu bleiben. Westdeutschland war so anders als das Londoner East End, wo alle möglichen Nationalitäten zusammenlebten. Doch Gemma verliebte sich: In den Sohn eines Holocaust-Überlebenden.
"Ich habe immer gedacht, bis wir Kinder haben sind wir längst weg, das hab ich mir gedacht. Ich dachte, ich werde nie Kinder hier groß ziehen. Das war bevor ich schwanger wurde."
Ihr Sohn*, der jüngste ihrer drei Kinder, ist zum Einkaufen mitgekommen. Er ist 14 und interessiert sich sehr für seine Familiengeschichte. Im Laden fragte er nach der Autobiografie seines Großvaters väterlicherseits: Franz Michalski, der sich als Kind vor den Nazis verstecken musste.
Verkäuferin: "Wenn, dann ist dort was von ihm. Mir sagt der Name nichts."
Gemma: "Er ist Zeitzeugen-Überlebender ... "
Erst vor ein paar Monaten hat der Jugendliche* eine Reise mit seinen Großeltern unternommen. Sie fuhren zuerst nach Breslau, wo sein Großvater aufwuchs und wovon aus er fliehen musste; dann zum Versteck nahe Görlitz. Und in Tschechien wohnten sie in dem Hotel, in dem er die letzten Kriegsmonate überstand.
"Ich erzähle oft, was mein Opa erlebt hat, aber nicht so andauernd. Ich will, dass meine Kinder das wissen, und ja ich fühle mich verpflichtet. Und auch nicht so 'verpflichtet'. Sondern verpflichtet 'awareness' zu zeigen."
Die Biografie führt der Laden nicht, doch Gemma Michalski ist fündig geworden. Sie kauft eine bestickte Pessach-Tischdecke, in der die ungesäuerten Brote am Festtag gewickelt werden.
Symbolische Speisen für das Pessach-Fest (auch Passah-Fest), dem "Fest des ungesäuerten Brotes" (hinten), in der Synagoge der jüdischen Gemeinde in Bielefeld.
Speisen für das Pessach-Fest, dem "Fest des ungesäuerten Brotes" (hinten).© picture-alliance/ dpa / Robert Fishman
Wieder zu Hause sitzen Mutter und Sohn am Küchentisch: Gemma Michalski backt einen Hefezopf. Es ist Freitag, eigentlich müssten alle Arbeiten laut jüdischem Gesetz bald ruhen. Doch die Familie lebt nicht gläubig,
"Ich würde sagen: Wir führen ein sehr jüdisches Leben, ein sehr assimiliertes jüdisches Leben: In dem man nicht immer zur Synagoge geht, in dem man nicht koscher isst. Die meisten Leute machen das gar nicht, sondern man hat einfach ein Leben."
Ein paar Traditionen wie Challa - den Hefezopf backen - hält sie trotzdem hoch. Seltsamerweise erst seit sie in Deutschland lebt, sagt sie. So als müsste sie ihren Kindern auch was Positives an ihrem Erbe vermitteln. Denn so einfach ist das nicht: Ein ganz normales jüdisches Leben zu führen.

Bewusst auf ein normales Gymnasium geschickt

Nach der jüdischen Grundschule hat sie ihre Kinder ganz bewusst auf ein normales Berliner Gymnasium geschickt. Doch seit er dort von der Reise mit seinen Großeltern erzählt hat – machen ihm einige Mitschüler das Leben schwer.
"In meiner ersten Schulwoche habe ich auch erzählt, ich bin Jude im Ethikunterricht. Also es war so still – wie in einem Film – alle gucken mich so an. Und dann hat einer gesagt: Ferdi, bist du wirklich Jude? Und ich habe ihn gefragt: Was meinst Du damit? Und er so: Ich mag dich sehr, aber ich kann nicht mit dir befreundet sein, denn du bist Jude. Und dann hat er mir so schreckliche Sachen gesagt über was die Juden angeblich so machen ..."
Nicht nur das. Zwei Jungs schupsen und treten ihn regelmäßig, erzählt er. Früher der Grundschule fühlte er sich wie jeder andere. Jüdisch fühlt er sich erst seit er eine reguläre staatliche Schule besucht. Ein Phänomen, das Psychologen kennen: Je stärker Jemand in die Rolle der Minderheit gedrängt wird, umso mehr identifiziert er sich schließlich damit.
Wünscht seine Mutter sich manchmal er würde es sich leichter machen und lieber verschweigen, dass er jüdische Wurzeln hat?
"Ich habe mir das überlegt, fast heimlich, ein heimlicher Gedanke. Oh god – aus mütterlichem Schutz. Aber grundsätzlich Nein. Nein, was ist das für ein Leben, dass man das verschweigt? Nein, das lehne ich grundsätzlich ab."
Sie ist stolz auf ihn, auch wenn die Rolle immer jemand Besonderes zu sein, mitunter sehr anstrengend ist – wie sie selbst weiß, seit sie in Deutschland lebt.

*Wir haben den Namen anonymisiert.
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