Antisemitismus in der Provinz

Bisher waren die Forschungen über Gewalt gegen Juden meist auf die Zeit des Nationalsozialismus und auf die großen Städte konzentriert. Der Historiker Michael Wildt untersucht in "Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung" die Geschehnisse in der Provinz und zeigt eine Transformation der bürgerlichen Zivilgesellschaft in eine rassistische Volksgemeinschaft.
Eingeworfene Fensterscheiben, Menschen, die nachts aus ihren Wohnungen gerissen und auf die Straße getrieben werden, zertrümmerte Möbel, Beschimpfen, Bespucken, brutale Schläge und Tritte, Mord, das sind die Bilder der Pogromnacht vom 9. zum 10. November 1938. Aber schon 1935 gehörten solche Gewaltakte zum Alltag der Juden in vielen Teilen Deutschlands und machten das Leben zur Tortur. Boykottaufrufe gab es noch viel früher. 1918 wurden die Juden für die Niederlage im Ersten Weltkrieg verantwortlich gemacht. "Nicht bloß der Bolschewismus galt als Hauptfeind", konstatierte Victor Klemperer in seinem "Curriculum Vitae", "sondern insbesondere das ‚internationale Judentum’." Die "Neue Zürcher Zeitung" schrieb im November 1919: "Alle Welt, vom Ministerpräsidenten bis zum kleinen Bezirksredner spricht von einer höchst bedrohlichen Pogromstimmung des deutschen Volkes."

Es ist jedoch nicht diese Kontinuität des Antisemitismus in Deutschland und Europa, die Michael Wildt beschreibt. Im Zentrum seiner Untersuchung steht vielmehr der Begriff der "Volksgemeinschaft", der seit dem Ersten Weltkrieg in fast allen politischen Parteien Konjunktur hatte. Bei den Sozialdemokraten zum Beispiel war der Begriff ein Synonym für die Einheit der Arbeiter. Für die Nationalsozialisten jedoch war die Frage, wer dazu gehört, weniger interessant als die Ausgrenzung derer, die nicht dazu gehören durften. Von der "Entfernung der Juden aus unserem Volke" sprach Hitler schon am 13. August 1920 im Münchener Hofbräuhaus.

Das Buch ist keine "Vorgeschichte" des Holocausts, sondern beschreibt an Fallbeispielen, wie sich aus der bürgerlichen Zivilgesellschaft nach 1933 eine rassistische, gewalttätige Volksgemeinschaft entwickelte. Michael Wildt verfolgt diesen Prozess nicht chronologisch, sondern aus unterschiedlichen Perspektiven. Der Historiker, der seit zehn Jahren als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung arbeitet, in dessen Edition das Buch erschienen ist, hat zahlreiche erschütternde Begebenheiten zusammengetragen. Viele spielten sich im Sommer 1935 ab, noch Monate vor Verabschiedung der Nürnberger Gesetze, mit denen die Juden endgültig ausgegrenzt wurden. Im westpreußischen Osterode zum Beispiel wurde ein Lederhändler brutal geschlagen und durch die Stadt gejagt, mit einem Schild um den Hals, auf dem stand: "Dieser dreckige Jude hat einen deutschen Jungen geschlagen!" Die Polizei schritt erst sehr spät ein; sie ging nicht gegen die Täter vor, sondern nahm den Lederhändler in Schutzhaft.

Berichte wie diesen hat Michael Wildt den Akten des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens entnommen, die noch bis in die 90er Jahre in Moskau im so genannten Sonderarchiv lagerten. Die zweite große Quelle, sozusagen von der Gegenseite, ist die umfassende Sammlung von Stimmungs- und Lageberichten staatlicher Stellen wie Bürgermeistern, Landräten, Regierungspräsidenten und Gliederungen der NSDAP, aber auch Berichte der Geheimen Staatspolizei.

Das Buch ist klar strukturiert, aufgeteilt in acht Kapitel, in denen über Boykott, über kollektive Gewalt, über die so genannte Rassenschande und über Pogrome berichtet wird. Die Volksgemeinschaft im Nationalsozialismus wurde durch Gewalt hergestellt. Die Gewalt war öffentlich. Wildt beschreibt, wie in den Dörfern und Städten die so genannten Stürmer-Kästen aufgestellt wurden. In diesen Kästen wurde das Nazi-Hetzblatt ausgehängt, mit Denunziationen derjenigen, die noch mit Juden verkehrten. Auch gegen sie richtete sich die Gewalt, meist von SA-Leuten, lokalen Partei- oder Hitlerjugend-Gruppen angezettelt, aber oft genug von den Mitbürgern getragen. Die Täter konnten sich der heimlichen oder offenen Komplizenschaft sicher sein, Strafverfolgung brauchten sie nicht zu fürchten.

"Die getroffene Auswahl der Regionen und Orte ist dabei keineswegs willkürlich oder zufällig", schreibt Wildt, "sondern orientiert sich daran, möglichst unterschiedliche Teile Deutschlands ins Bild kommen zu lassen, ob das protestantische Ostpreußen oder das katholische Rheinland, das peripher gelegene Ostfriesland oder das zentrale Hessen, das von der Arbeiterbewegung geprägte Ruhrgebiet oder das eher von der Kirche bestimmte Bayern."

Juden gehörten nicht mehr zur viel beschworenen "Volksgemeinschaft". Sie wurden der Gewalt preisgegeben, Schutz wurde ihnen verweigert. Dass es soweit kommen konnte, dazu bedurfte es der Politik "von oben" mit ihren Erlassen und Gesetzen, aber vor allem eben auch der Politik "von unten", mit den alltäglichen Denunziationen und gewalttätigen Übergriffen. Besonders deutlich wurde dies in der Provinz, in den Dörfern und kleinen Gemeinden. Michael Wildt hat die Judenverfolgung aus einer bisher nur wenig bekannten Perspektive analysiert. Eine ausführliche Bibliographie und ein Ortsregister runden das Werk ab.

Rezensiert von Annette Wilmes

Michael Wildt: Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939
Hamburger Edition, Hamburg 2007,
412 Seiten, 16 Abbildungen, 28,00 Euro