Antisemitismus

"Das Problem ist lange übersehen worden"

Pro-palästinensische Demonstranten nehmen in Berlin an einer Kundgebung zum Al-Kuds-Tag teil, um ihre Solidarität mit den Palästinensern im Nahost-Konflikt auszudrücken
"Antisemitische Tiraden" auf der Straße: Pro-palästinensische Demonstrationen in Berlin. © afp / Adam Berry
Moderation: Patrick Garber · 09.08.2014
Die Direktorin des American Jewish Committee Berlin, Deidre Berger, warnt vor wachsendem Antisemitismus unter Muslimen in Deutschland. Jüngste Hetzparolen zeigten, "dass ein Ausmaß an Hass existiert in Teilen dieser Gesellschaft, das gefährlich ist".
Deutschlandradio Kultur: Tacheles, der Titel dieser Sendung, kommt aus dem Jiddischen und bedeutet Klartext reden. Tacheles wollen wir heute reden über Antisemitismus, der in letzter Zeit bei Demonstrationen auf deutschen Straßen in einer Offenheit ausgebrochen ist, die viele kaum für möglich gehalten hätten.
Meine Gesprächspartnerin ist Deidre Berger. Sie ist Direktorin des Berliner Büros des American Jewish Committee, einer Lobbyorganisation, die sich um den transatlantischen Dialog und das Verhältnis zwischen den USA, Deutschland und den Juden in aller Welt kümmert. – Guten Tag, Frau Berger.
Deidre Berger: Guten Tag.
Deutschlandradio Kultur: Frau Berger, Sie sind Amerikanerin. Sie sind schon vor 30 Jahren nach Deutschland gekommen, zunächst als Journalistin. Seit 15 Jahren leiten Sie das Berliner Büro des American Jewish Committee. Fühlen Sie sich als Jüdin in Deutschland derzeit gefährdet, vielleicht sogar mehr als in den letzten Jahren?
Deidre Berger: Ich fühle mich nicht gefährdet, aber ich fühle mich schon in einer Lage, die nicht so ist wie vorher. Man muss ein bisschen aufpassen, wo man hingeht. Und allgemein merkt man, auch das Gefühl für die Familie, dass man ein bisschen vorsichtiger ist als ansonsten.
Deutschlandradio Kultur: Charlotte Knobloch, die ehemalige Präsidentin des Zentralrats der Juden, hat kürzlich jüdischen Menschen geraten, sich in der Öffentlichkeit nicht als Juden zu erkennen zu geben. Ist das auch Ihr Rat?
Deidre Berger: Man muss sehr aufpassen, das Gefühl zu haben, man kann nicht offen leben. Das ist eine Demokratie. Was für eine Demokratie würde das sein, wenn Menschen das Gefühl haben, sie können nicht offen das sein, was sie sind? Nichtsdestotrotz gibt es vielleicht Viertel, Gegenden, wo das nicht ratsam ist, mit einem jüdischen Stern um den Hals herumzulaufen oder mit einer Kippa. Dass es so ist, ist wirklich sehr problematisch. Es sollte nicht so sein.
Deutschlandradio Kultur: Hier in Berlin und in anderen deutschen Städten hat es in den letzten Wochen Demonstrationen gegeben, bei denen es vordergründig um Protest gegen das Vorgehen Israels im Gaza-Streifen ging, bei denen aber auch übelste antisemitische Parolen zu hören waren. – Hätten Sie so was für möglich gehalten in Deutschland nach allem, was passiert ist?
"Übelste antisemitische Tiraden" auf der Straße
Deidre Berger: Die Grenze von Israel-Kritik zu Antisemitismus ist immer schwierig festzustellen, aber es war leider sehr klar. Es waren, wie Sie sagen, übelste antisemitische Tiraden, die hier auf den Straßen zu hören waren. Was wir vielleicht für weniger möglich gehalten haben, ist, dass das als Beleidigung von der Staatsanwaltschaft eingestuft ist und dass es nicht sofort von der Polizei gestoppt wurde. Es ist doch volksverhetzend, wenn man übelste antisemitische Beschimpfungen schreit und Parolen, die man wirklich nicht für möglich gehalten hat. Es ist sehr gefährlich. Und ich glaube, es braucht eine große Diskussion, wie man zwar die Meinungsfreiheit sichern kann und trotzdem keine Minderheiten in Gefahr bringt.
Dazu würde ich sagen, die antisemitischen Parolen gefährden nicht nur Juden. Sie gefährden jeden, der anderer Meinung ist als diese Demonstranten. Eigentlich waren das Ziel von vielen dieser Schimpfereien normale Bürger, die sich für Israel ausgesprochen haben. Ob die jüdisch waren oder nicht, hat die Demonstranten überhaupt nicht interessiert. Das zeigt, das ist eigentlich eine Gefahr für die Gesellschaft, nicht nur für eine Minderheit.
Deutschlandradio Kultur: Eine dieser Parolen – ich möchte sie mal zitieren, obwohl es mir widerstrebt – hieß: "Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein". Dass das antisemitisch ist, ist keine Frage. Trotzdem, wie Sie gesagt haben, die Polizei hat es erstmal nicht als Volksverhetzung eingestuft, gegen die sie hätte vorgehen müssen, sondern als Beleidigung, gegen die nur was unternommen wird, wenn es eine Anzeige gibt. – Haben Sie Verständnis für diese juristischen Feinheiten? Sie haben ja Anzeige wegen Volksverhetzung gestellt.
Deidre Berger: Wir haben in der Tat eine Anzeige gestellt. Und wir haben wenig Verständnis für diese Entscheidung von der Staatsanwaltschaft. Das ist eine ganz klare Aufforderung, gegen Juden etwas zu unternehmen. Ich würde dazu sagen: Ich fühle mich nicht sehr wohl, wenn ich so was höre. Ich fühle mich ohne Frage gefährdet. Das soll natürlich auch zählen, wenn ein Staatsanwalt einschätzt, ob es Volksverhetzung ist oder nicht. Fühlen sich dann Juden oder die Ziele von diesen Parolen, fühlen Menschen sich gefährdet? Das ist schwierig zu verstehen, dass das nur als Beleidigung zu verstehen ist.
Deutschlandradio Kultur: Die Behörden müssten also, wenn sie Demonstrationen genehmigen, die Polizei, wenn sie diese Demonstrationen überwacht, und eben die Staatsanwaltschaften, wenn sie hinterher über mögliche Anklagen zu entscheiden haben, sie müssten also Ihrer Meinung nach härter vorgehen gegen offen gezeigten Antisemitismus?
Deidre Berger: Absolut sollen sie härter dagegen angehen. Und ich glaube, das ist auch jetzt erreicht. Egal, wie man diese Parolen einstuft, die Polizei hat jetzt viel mehr Sensibilität gezeigt, seit wir diese Anzeige erstellt haben. Die haben uns auch erzählt, dass es viel diskutiert wird innerhalb der Polizei, wann man einschreitet oder nicht. Das ist sehr wichtig.
Ich glaube, in Berlin und auch woanders in Deutschland braucht es viel mehr Diskussionen, wann kann man einschreiten und wann nicht, wann es die öffentliche Sicherheit gefährdet. Es ist auch für viele in der jüdischen Gemeinschaft verwunderlich, wenn gerade eine Demonstration für Israel umrundet ist von Polizisten als Schutzmaßnahme, aber diejenigen, die eigentlich manchmal volksverhetzend sind, frei sind, die Straßen runter zu marschieren. Das können wir nicht immer verstehen.
Deutschlandradio Kultur: Befürchten Sie, dass nun in Deutschland, vielleicht sogar auch in der Mehrheitsgesellschaft, Dinge akzeptiert werden, die bislang tabu waren? Ist da etwas ins Rutschen gekommen?
Deidre Berger: Ich glaube, dass es ein sehr alarmierendes Zeichen ist, dass wochenlang solche Parolen, wie "Juden in das Gas" und "Brenn', Jude", dass man das einfach erlaubt hat, ohne einzuschreiten. Das muss nicht bedeuten, dass Deutschland jetzt in einer schlimmen antisemitischen Phase ist, aber das ist ein großes Alarmsignal. Weil, auch wenn die Polizei jetzt schneller einschreitet, das Problem ist nicht weg. Das ist was sehr Wichtiges. Diese ganzen Demonstrationen haben zutage gebracht, dass ein Ausmaß an Hass existiert in Teilen dieser Gesellschaft, das gefährlich ist. Es ist nicht nur volksverhetzend, es ist wirklich einfach gefährlich für eine Gesellschaft.
Was uns noch sehr, sehr besorgt, ist, dass sehr viele junge Leute bei diesen Demonstrationen gewesen sind, zum Teil Jugendliche, Kinder, die wiederholt von ihren Familien hingebracht worden sind. Was passiert, wenn die in die Schulen kommen jetzt im Herbst? Das war wie Indoktrination. Ich war bei vielen von diesen Demonstrationen dabei. Das war nicht nur Meinungsäußerung, da war wirklich eine Stimmung erzeugt, die sehr antiisraelisch und manchmal sehr antisemitisch war. Das hat man gespürt, als man da war. – Was macht man da mit diesen jungen Leuten? Dafür gibt es eigentlich kaum Programme und wenig Diskussion. Das ist ein großes Problem.
"Ein Ausmaß an Hass, das gefährlich ist"
Deutschlandradio Kultur: Um nochmal daran zu erinnern, es waren ja Demonstrationen, die sich gegen das israelische Vorgehen im Gaza-Streifen gerichtet haben. Ein großer Teil der Teilnehmer und auch derer, die unangenehm aufgefallen sind, waren Menschen mit palästinensischem, mit arabischem, vielleicht auch mit türkischem Hintergrund. Nun haben sich der Zentralrat der Muslime in Deutschland und auch die hiesige diplomatische Vertreterin der Palästinenser öffentlich von diesen antisemitischen Ausfällen bei den Demonstrationen distanziert. – Ist das für Sie ausreichend?
Deidre Berger: Nein, das ist lange nicht ausreichend. Das ist sehr wichtig, dass es passiert ist. Es hat lange gedauert. Aber die vertreten nicht sehr viele. Wir müssen wissen, dass die muslimischen Gemeinschaften sozusagen hier in Deutschland nicht sehr organisiert sind. Viele von diesen Demonstrationen waren sehr spontan über soziale Medien organisiert. Und es gibt keinen, der oder die die repräsentiert in dem Sinne. Also, von daher ist es sehr wichtig, dass der Zentralrat der Muslime das gesagt hat, aber das ist nur ein erster Schritt für ein Problem, das wirklich sehr weitreichend ist.
Es gibt in der arabischen Welt immer mehr Antisemitismus. Das, glaube ich, ist nicht ernst genug genommen. Wenn Regierungen der ganzen Nachbarstaaten von Israel dauernd Antisemitismus erlauben in den staatlichen Medien, in den Moscheen, überall dieses Klima, das strahlt auf Deutschland und Europa zurück. Es kommt über Internet. Es kommt über die sozialen Medien. Es kommt über die Einstellungen von den Menschen, die hier wohnen.
Wenn wir schauen, mit Premierminister Erdogan, der in jüngster Zeit sehr grenzwertige Aussagen gesagt hat über Israel, die wirklich am Rande von Antisemitismus waren, merken wir zum ersten Mal eine große Zahl von Deutschen türkischer Herkunft, die auch bei diesen Demonstrationen dabei sind. Natürlich hat das eine Wirkung hier in Deutschland.
Ich glaube, diese Entwicklungen sind nicht genügend beachtet. Da wächst etwas in der muslimischen Gesellschaft hier in Deutschland, was sehr gefährlich ist. Es ist aber natürlich nicht nur da. Und wenn es nicht in der Gesellschaft an sich wäre, aus der man es einspeisen kann, würde es nicht so verbreitet sein. Das denke ich.
Deutschlandradio Kultur: Frau Berger, bevor wir vielleicht auf diesen Aspekt ein bisschen näher eingehen, wollte ich nochmal zurückgehen auf die Frage, die Sie schon angerissen haben: Wo ist die Grenze zwischen legitimer Kritik an der israelischen Regierungspolitik, auch an Maßnahmen der israelischen Streitkräfte einerseits und Antisemitismus und Judenhass andererseits? Mit dieser Frage müssen Sie sich ja sozusagen von Amts wegen schon seit vielen Jahren beschäftigen. Jetzt im Lichte der jüngsten Ereignisse, wie würden Sie die Grenze definieren?
Deidre Berger: Die Grenze kann nicht immer klar definiert sein. Das ist ein Teil des Problems. Aber wenn man sehr obsessiv dauernd Israel kritisiert, wenn das ein Niveau an Kritik ist, was nicht vergleichbar ist mit der Art und Weise, wie jedes andere Land kritisiert wird, dann geht das zu weit. Wenn Israels Existenzrecht abgesprochen wird, dann geht das zu weit. Es gibt viele Punkte, wo das nicht normal ist. Das hat nichts mit Kritik von einer Landespolitik zu tun. Das hat einen überzogenen Charakter, der verrät, dass das eigentliche Ziel die Juden insgesamt sind und nicht eine Regierung, eine Einzelregierung.
Leider redet keiner darüber, darf man die Politik von Hamas, einer terroristischen Organisation, kritisieren. Die Diskussion findet einfach nicht statt. Allein dabei merkt man, wie verzerrt diese ganze Diskussion ist. Viele Leute verstecken sich hinter einer angeblichen Kritik des Staates Israel. Es ist keine Diskussion, wo man das Gefühl hat, das zielt nur auf die Militäraktionen der jetzigen israelischen Regierung. Es ist eine allgemeine Kritik, die wirklich an die Grundexistenz von einem Staat gerichtet ist.
Wie würde das für irgendeinen Staat sein, wenn man an seiner Grundexistenz zweifelt? Da muss man wirklich fragen: Was spielt sich hier ab?
Deutschlandradio Kultur: Wobei vielleicht auch die Frage gestellt werden muss, wie die deutschen Medien mit dem Nahostkonflikt derzeit umgehen. Der Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch von der Freien Universität Berlin gibt den Medien hierzulande eine gewisse Mitschuld an der Zunahme antijüdischer Stimmung. Er hat die aktuelle Berichterstattung über die Militäraktionen im Gaza-Streifen analysiert. Und dabei meinte er, deutliche antiisraelische Tendenzen erkannt zu haben – Israel als Aggressor, die Palästinenser im Gaza-Streifen als Opfer. – Sehen Sie das auch so? Sind deutsche Medien teilweise parteiisch gegen Israel?
"Falsches Verständnis von diesem Konflikt"
Deidre Berger: Man muss es sehr differenziert sehen. Manchmal ja, sehr parteiisch. Und man merkt das gar nicht. Ich glaube, es ist oft keine Absicht. Nichtsdestotrotz, man transportiert Stereotypen. Man transportiert die Ansichten von der Hamas-Regierung, ohne darüber nachzudenken.
Wenn das nicht so wäre, würden dauernd Hinweise kommen zum Beispiel in der deutschen Berichterstattung, wie kontrolliert die Information ist, die aus den palästinensischen Gebieten kommt. Wir haben zum Beispiel keine gesicherte Information über die Zahl an Opfern. Wir haben keine gesicherte Information, wie viele davon eigentlich Kämpfer waren. Wir haben kaum Bilder überhaupt von Kämpfern. Das ist alles nicht gewollt von Hamas. Dadurch entsteht natürlich das Bild nur von Opfern. Es gibt keine Informationen davon, inwieweit Menschen leider als Schutzschilder benutzt werden von Hamas – ganz zynisch. Das wird alles nicht berichtet. Ohne dieses Verständnis entsteht ein sehr falsches Verständnis von diesem Konflikt.
Darüber hinaus berichtet kaum einer, wie viele Leute innerhalb Israels geflüchtet sind in den letzten Wochen, weil die unter Beschuss sind. Die Menschen vergessen, so hat das Ganze angefangen. Israel ist eigentlich das Land, das beschossen ist...
Deutschlandradio Kultur: ... durch die Raketen aus dem Gaza-Streifen.
Deidre Berger: ... durch die Raketen aus dem Gaza-Streifen. Diese Ursache-Wirkung ist nicht immer sehr klar gestellt.
Ich denke, was auch sehr wichtig ist in der Berichterstattung, ist eine fehlende Unterscheidung manchmal zwischen dem, was jüdisch und was israelisch ist. Das führt zu einer Vermischung, wo man nicht immer versteht, dass Kritik über Israel doch antisemitisch ist. Es ist sehr wichtig, dass man Israel als Land versteht und dass die Juden in Europa eine religiöse Minderheit sind und dass man die zwei nicht durcheinanderbringt.
Deutschlandradio Kultur: Da hat sich ja Alfred Grosser, der bedeutende deutsch-französische Publizist jüdischer Abstammung, kürzlich im Deutschlandfunk geäußert. Er hat Kritik an einigen jüdischen Verbänden geübt. Er wirft ihnen zu enge Identifikation mit Israel vor – also, jüdische Verbände in Frankreich und in Deutschland. Das würde eben zu einer zu starken Identifikation der in Europa lebenden Juden mit dem Staat Israel führen, ein Staat, der – so Grosser wörtlich – "große Kriegsverbrechen" begangen habe. – Was sagen Sie dazu?
Deidre Berger: Alfred Grosser ist ein bekannter Israelkritiker, ein sehr starker Kritiker. Ich merke, dass Alfred Grosser nichts sagt über die sehr große arabische Minderheit in Europa, dass die vielleicht eine große Identifikation haben mit ihren verschiedenen Ländern. Das sagt er nicht. Also, von daher kann man das nicht wirklich ernst nehmen.
Es ist klar, dass Menschen, die jüdisch sind, eine gewisse Sympathie haben, eine Bindung an den Staat Israel, egal wie die dazu stehen. Viele von uns haben Verwandte da. Das ist der Staat, die Heimat für Juden. Daran ist nichts zu kritisieren als solches.
Andere haben auch kritisiert, dass die Diskussion über Antisemitismus eine angebliche Ablenkung ist von der Kritik über Israel. Ich würde das anders sehen. Das ist eine Art und Weise, so ein Argument, das Problem wirklich zu ignorieren. Und das Problem ist sehr real. Es ist natürlich nicht wie 1938 hier in Europa. Das sollten wir klar sagen. Diese Demonstrationen sind nicht von Regierungen angefacht. Man kann die zwei Situationen nicht wirklich vergleichen.
Was heute auch sehr wichtig ist, ist, dass Staatschefs darüber sehr klar sind, dass es nicht in Ordnung ist. Es gibt klare Verurteilungen von diesen antisemitischen Manifestationen. Das hat es natürlich 1938 nicht gegeben. Nichtsdestotrotz gilt für jede Gesellschaft: Wenn Antisemitismus zu offen vorkommt, dann muss man fragen, was ist los in der Gesellschaft? Das ist ein großes Warnsignal. Wir wollen nicht, dass Juden für die Ewigkeit in Europa immer das erste Zeichen sind, dass etwas nicht stimmt in gewissen demokratischen Institutionen. Und das ist ein Warnsignal, weil, es ist sehr leicht. Antisemitismus ist eine einfache Erklärung für alles, was nicht gut geht in der Welt sozusagen, wenn man das auf den einfachsten Nenner reduzieren will.
Deutschlandradio Kultur: Frau Berger, wie auch immer man die israelische Politik gegenüber den Palästinensern bewertet, als Begründung oder gar Rechtfertigung für antisemitische Exzesse bei Demonstrationen oder gar tätliche Angriffe auf jüdische Mitbürger hier in Deutschland taugt sie natürlich nicht. Und wir haben ja schon darüber gesprochen, solche Aktionen gehen oft auf Täter mit palästinensischem, überhaupt arabischem oder auch türkischem Hintergrund zurück. Hat die deutsche Gesellschaft und haben die deutschen Behörden da in den letzten Jahren etwas übersehen, indem sie beim Thema Antisemitismus immer nur nach rechts geschaut haben?
Deidre Berger: Ich glaube, ja. Es gibt zwar Programme, die auf Minderheiten zielen hier in Deutschland, aber die sind viel zu wenig. Seit eineinhalb Jahren laufen gar keine Bundesprogramme. Und insgesamt wissen wir noch nicht so gut, wie wir damit umgehen. Das braucht viel mehr Erfahrung, viel mehr Projekte. Und das muss wirklich großflächig angewendet werden und nicht nur hier und da eine kleine NGO mit einem Pilotprogramm. Das reicht einfach nicht aus, um besser zu verstehen: Woher kommt das? Wie kann man etwas dagegen tun? Wie gehen die Lehrer zum Beispiel damit um? Wie gehen Eltern mit ihrer eigenen Familie und Kindern um? Wie gehen Leute, religiöse Autoritäten damit um? Da ist sehr, sehr viel zu diskutieren.
Und ich glaube, das Problem insbesondere in muslimischen Kreisen ist lange übersehen worden, auch nach dem Motto: Die sind doch diskriminiert und die sind auch Opfer. Das sind zwei Diskussionen. Die zu vermischen, ist sehr gefährlich.
Natürlich gibt es Probleme mit Minderheiten in Deutschland. Und es gibt viel zu tun mit Integration, es gibt Ausgrenzungsmöglichkeiten. Nichts davon ist zu bestreiten. Das kann aber nicht als Entschuldigung dienen, dass Menschen antisemitisch handeln.
Deutschlandradio Kultur: Ein bisschen ist das Problem ja schon erkannt worden. Vor gut zweieinhalb Jahren hat ein Expertenkreis Antisemitismus, der vom Bundesinnenministerium eingesetzt worden ist, einen Bericht vorgelegt, in dem Antisemitismus auch in islamistischen Milieus, überhaupt in muslimischen Milieus, das sollte man ja nicht miteinander vermischen, als wachsende Gefahr erkannt wurde. – Hat man daraus die richtigen Schlussfolgerungen gezogen aus dieser frühen Warnung?
Deidre Berger: Die Expertenkommission des Deutschen Bundestags und der deutschen Bundesregierung hat gute Schlüsse gezogen. Das Problem ist, dieser Bericht liegt seit Dezember 2011 vor und keiner implementiert die Empfehlungen in diesem Bericht. Da ist wertvolle Zeit verloren. Es gibt fast drei Jahre lang keine weitere Erfahrung mit genau dieser Problematik: Wie erreichen wir diese jungen Leute? Was sind die besten Methoden? Es gibt drei Jahre lang keine Grundlagenforschung, was sehr empfohlen war in diesem Bericht. Weil, eigentlich wissen wir sehr wenig drüber. Es gibt seit drei Jahren keine Programme, keine Projekte, um eine Sensibilisierung zu erreichen in verschiedenen Sektoren der Gesellschaft, zum Beispiel Polizei. Es gibt sehr viel, was in den letzten drei Jahren hätte gemacht werden können, was einfach nicht passiert.
Darüber hinaus sind viele von den kleineren NGO, die daran arbeiten, im Moment nicht arbeitsfähig, weil die keine Gelder bekommen haben seit ein paar Jahren. Und viele sind arbeitslos. Man kann solche Strukturen nicht einfach aufbauen, runtergehen lassen, aufbauen, man braucht eine stetige Finanzierung. Das ist bislang nicht passiert – leider.
Deutschlandradio Kultur: Es gibt ja oder es gab Projekte auch aus Migrantenkreisen, die sich in Stadtteilen darum gekümmert haben, in Familien zu gehen, in die Schulen zu gehen und eben dort aktiv gegen Antisemitismus vorzugehen. Aber, wie Sie sagen, werden dann manchmal die Mittel einfach nicht weiter gezahlt oder die Förderung läuft aus. – Setzen wir da die falschen Prioritäten? Fehlt es da an Nachhaltigkeit bei diesem Problem?
Deidre Berger: Erstens glaube ich, die Idee, dass alles nur Pilotprojekte sein sollen, ist ein Fehler. Man kann nicht nur ein Modellprojekt haben und erwarten, dass es irgendwie dann großflächig integriert sein würde – in einer Schulbehörde zum Beispiel. Das braucht viel länger als drei Jahre, solche Programme auf einen guten Weg zu bringen.
Ich glaube auch, dass diese Programme viel zu vereinzelt sind und dass es nicht genügend Austausch und Koordination gibt. Das Problem ist nicht wirklich anerkannt als ein dringendes Problem. Wenn Empfehlungen von einer Expertenkommission drei Jahre auf Eis liegen, das vermittelt die Botschaft, na ja, es ist kein akutes Problem. Eigentlich müssen wir uns nicht drum kümmern. – Und die letzten Wochen haben uns gezeigt, das war leider eine falsche Schlussfolgerung.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben schon angesprochen arabische Medien, das Internet. Man kann hier in Europa ja per Satellit zum Beispiel die Fernsehsender der Hamas oder der libanesischen Hisbollah empfangen, die übelste antisemitische Hetze verbreiten. Wie kann man damit überhaupt umgehen? Wie kann man verhindern, dass hier lebende Muslime dadurch radikalisiert werden oder etwas durch Hassprediger, wie diesen Imam in Berlin-Neukölln, der kürzlich in einer Moschee zum Massenmord an Juden aufgerufen haben soll? Was kann man dagegen überhaupt tun?
"Im Bildungswesen muss sehr viel getan werden"
Deidre Berger: Es gibt vieles, was man dagegen tun kann. Erstens muss im Bildungswesen sehr viel getan werden, dass junge Leute verstehen, dass es verachtet ist, wenn die antisemitisch denken und reden. Es muss viel mehr getan werden, um zu den ganzen Moscheen einfach ein besseres Verhältnis zu haben, dass man weiß, was in diesen Moscheen gesagt wird. Wer sind die Imame? Da ist die Bundesregierung dran, deutschsprachige Imame auszubilden, aber wir sind lange weg davon. Es braucht viel mehr Bewachung vielleicht, dass man weiß, was da eigentlich läuft.
Es braucht viel mehr Arbeit auch in den Gemeinschaften. Auf Englisch sagen wir community relations. Da muss man etwas machen, dass man mehr Leute erreicht. Es gibt sehr gute Modellinitiativen, die Stadtteilmütter zum Beispiel hier in Berlin, wo man mit Müttern arbeitet, dass die besser verstehen, was die demokratischen Grundwerte sind und wie die als Autoritätsfiguren in ihrer Gemeinde etwas dafür tun, dass das besser verankert ist.
Ich glaube, wir brauchen viel mehr kreative Ideen, wie wir dran gehen. Aber zuerst muss man das als Problem anerkennen.
Deutschlandradio Kultur: Frau Berger, Deutschland ist leider nicht das einzige Land, in dem sich in letzter Zeit antisemitische Übergriffe häufen. Aus Großbritannien, den Niederlanden und ganz besonders aus Frankreich hören wir von Angriffen auf Synagogen, auf Läden, die jüdische Besitzer haben. In Frankreich und Belgien hat es auch Morde aus Judenhass gegeben. – Erlebt Europa eine Wiederkehr des Antisemitismus in seiner wirklich gewalttätigen Form?
Deidre Berger: Das haben wir leider schon gesehen. Es ist keine Erscheinung, die man jetzt vergleichen soll mit anderen Phasen, aber es ist viel zu weit gegangen. Jetzt haben in Frankreich zum Beispiel der Präsident und der Premierminister sehr starke Worte gefunden und haben klar signalisiert, dass es nicht akzeptiert ist. Aber es ist ein bisschen wenig und sehr spät. Es wurde nichts dran gearbeitet seit Jahren, obwohl diese Spannungen ganz klar zu sehen waren.
In Frankreich überlegen sie, was man mit Bildungsmaßnahmen jetzt machen kann. In Großbritannien auch, darüber haben wir nicht gesprochen, da sind auch sehr viele Spannungen. Und in Deutschland ist es auch wichtig. Die Welt ist auch anders. Auch wenn man das Problem erkannt hat vor einigen Jahren, Salafismus zum Beispiel ist leider auf dem Vormarsch, nicht nur im Nahen Osten, aber auch hier in Deutschland und auch in Frankreich. Das geht sehr, sehr rapid, die Radikalisierung zum Beispiel von jungen Leuten, die jetzt nach Syrien gehen, die Dschihadisten, und die zurückkommen nach Europa. So einer war der Mann, der in Brüssel vier jüdische Menschen erschossen hat zum Beispiel. Die kommen hasserfüllt zurück.
Außerdem geht im Internet die Radikalisierung wirklich sehr schnell. Also, das ist ein neues Phänomen und wir müssen uns wirklich anders drauf einstellen, dass wir mit einem Niveau an Hass zu kämpfen haben, was in diesem Ausmaß nicht existiert hat vor einigen Jahren.
Deutschlandradio Kultur: Wir haben über Maßnahmen von Nationalstaaten gesprochen. Muss auch die Europäische Union etwas tun? Was kann sie überhaupt tun?
Deidre Berger: Das ist eine sehr gute Frage. Wir sind sehr zermürbt zu sehen, dass bislang gar nix getan wird. Deutschland und Frankreich fangen an, etwas zu tun. Die merken, dass es eine sehr kritische Situation ist. Aber was haben wir vom Europäischen Parlament gehört in den letzten Wochen? So gut wie nichts. Was haben wir von führenden europäischen Politikern gehört? Nur vereinzelt. – Da muss natürlich etwas passieren und ganz schnell.
Man könnte zum Beispiel im Europäischen Parlament einen Sonderausschuss bilden als Reaktion auf diese Ereignisse. Das wäre mehr als angebracht. Man kann auf europäischer Ebene einiges an Forschung anfangen, dass wir besser verstehen, was spielt sich hier ab. Woran liegt der Antisemitismus und wie kann man Antworten finden, was da zu tun ist? Man kann auf europäischer Ebene Initiativen anfangen, die nicht nur in einem Land sind, aber wo mehr Austausch über Lösungen, wie man Antisemitismus bekämpfen kann, anfängt. Da gibt es sehr viel zu tun.
Deutschlandradio Kultur: Frau Berger, jüdische Einrichtungen wie der Zentralrat der Juden sind gerade in letzter Zeit wieder einer Flut von Schmähungen über Emails, Briefe und auch in sozialen Netzwerken ausgesetzt. Ich nehme an, dem American Jewish Committee geht es da nicht besser. – Wie gehen Sie damit um? Lesen Sie das überhaupt noch alles?
Deidre Berger: Diese Art von Schmähbriefen ist kein neues Phänomen, leider. Das ist verstärkt natürlich auf den Zentralrat der Juden, auch auf das jüdische Museum zum Beispiel. Und es gibt neue Ziele. Zum Beispiel eine pro-palästinensische Demonstration wird in einigen Tagen vor dem Springer-Verlag stattfinden, weil der Springer-Verlag relativ israelfreundlich berichtet hat und klar den Antisemitismus verurteilt hat.
Es gibt immer mehr Ziele, wo solche Hassbriefe kommen. Das soll und muss man sehr ernst nehmen, auch weil das nicht nur vom Rande der Gesellschaft kommt. Es kommt mehr und mehr aus der Mitte der Gesellschaft. Da muss man nicht mal die Hassbriefe lesen, man muss nur die Leserbriefe lesen, die nach Artikeln kommen. Dann lernt man eine ganze Menge darüber, was sich hier abspielt.
Deutschlandradio Kultur: Vielen Dank für das Gespräch.