Anti-illusionistisches Theater

Von Christoph Leibold |
Dass Recht haben und Recht bekommen durchaus zweierlei sind, ist eine altbekannte Wahrheit; und dass einen angesichts dieser Ungerechtigkeit die Ohnmacht befallen kann, ein Gefühl, das wohl jeder kennt. Nur: die wenigsten werden darüber zum Mörder und Brandstifter, so wie Kleists Kohlhaas, der durch Willkür um zwei stattliche Pferde gebracht wird und im Dickicht von Filz und Vetternwirtschaft bis hinauf in die höchsten Ebenen der Staatsmacht vergeblich um sein Recht kämpft.
Selbst wenn man es kaum billigen mag, dass Kohlhaas daraufhin gewalttätig wird: außergewöhnlich ist dieser Impuls nicht. Wer hätte sich nicht schon einmal dem Gedanken hingegeben, es anderen nach erlittenen Kränkungen so richtig heimzuzahlen. Es ist dieser moralische Zwiespalt zwischen Sympathie und Ablehnung, den Hanna Rudolph in ihrer Bühnenadaption von Kleists Novelle am Münchner Volkstheater gekonnt herausgearbeitet hat. Ihre Inszenierung – das ist ihre Stärke – fordert den Zuschauer heraus, Partei zu ergreifen für Kohlhaas und macht es zugleich schwer möglich.

Und das, obwohl Kohlhaas hier merklicher noch als bei Kleist vor der Selbstjustiz zurückschreckt. "Er schäumte vor Wut!" heißt es in der Novelle einmal über den Titelhelden, als der einen Brief erhält, in dem die Obrigkeit ihn als "unnützen Querulanten" abkanzelt. "Er schäumte vor Wut", dieser Satz fällt auch im Volkstheater, aber Friedrich Mücke als Kohlhaas wehrt ihn mit einem traurigen ‚Nein’ ab. Sein Kohlhaas wird nie zum rasenden Rächer in eigener Sache. Eher ist er einer, der sich widerstrebend ins Unvermeidliche fügt, wozu in letzter Konsequenz eben auch die Selbstjustiz zählt.

Man kann mitleiden mit diesem Kohlhaas. Und doch inszeniert Hanna Rudolph kein Illusionstheater, das unmittelbare Identifikation mit dem Figuren ermöglicht. Sechs Schauspieler in wechselnden Rollen erzählen auf einer weitgehend leeren, mit Plastikplanen ausgeschlagenen Bühne gemeinsam Kleists Novelle eng am Text nach. Nur allmählich entwickeln sich aus Einsprengseln direkter Rede: Dialoge und Spielszenen. Dieses bewusst anti-illusionistische Theater, das bei Adaptionen von Prosatexten derzeit häufig zu erleben ist auf deutschsprachigen Bühnen, ist beim "Kohlhaas", in dem ganze Städte in Flammen aufgehen, allein schon technisch eine Notwendigkeit - denn bebildern lässt sich das alles ja kaum mit den Mitteln des Theaters. Es ist auch gar nicht notwendig. Gelingt es der Regie, Atmosphäre zu schaffen statt konkreter Bilder, öffnet das viel eher Fantasieräume in den Köpfen der Zuschauer als es platte Illustration der Handlung je könnte. Gelingt es nicht, bleiben solche Bühnenadaptionen allerdings oft müde Papiertiger.

Hanna Rudolphs Inszenierung pendelt zwischen beiden Extremen. Die Aufführung braucht anfangs allzu lang, ehe sie sich über das Format einer Lesung mit verteilten Rollen hinaus entwickelt. Später gelingen bestechende Szenen, etwa wenn Kohlhaas mit einem kakophonischen Gewirr von ihn abwimmelnden Stimmen vermischt mit hämischem Gelächter konfrontiert wird. Da wird seine Ohnmacht schmerzhaft erfahrbar. Aber nicht immer glückt der Sprung von der Erzählung ins atmosphärisch dichte Spiel, manchmal mündet er in planlosem Bühnenaktionismus. Und dennoch: unterm Strich bietet dieser Abend genügend spannende Momente, die neugierig machen auf weitere Regiearbeiten von Hanna Rudolph.

"Michael Kohlhaas" nach einer Novelle von Heinrich von Kleist
Münchner Volkstheater
Regie: Hanna Rudoplh