Anthropologie

Warum wir vergessen müssen

Von Ariadne von Schirach · 09.12.2013
Der französische Ethnologe und Anthropologe Marc Augé hat viele Jahre lang westafrikanische Stämme auf Gesellschaftsstrukturen untersucht, sich dann aber der eigenen Kultur zugewandt. In seinem aktuellen Buch beschäftigt er sich mit dem Vergessen und der Erinnerung.
Warum sollen wir vergessen? Im Zeitalter digitaler Datenspeicherung ist der bereits 2003 erschienene Essay „Die Formen des Vergessens“ des französischen Ethnologen Marc Augé ebenso aktuell wie relevant – obwohl Augé sich nicht direkt aufs Internet bezieht.
Dem Autor dieses schmalen, aber sehr gehaltvollen Büchleins gelingt es dennoch, die Notwendigkeit und die Verheißung des Vergessens plausibel zu machen. Um seine Gedanken zu illustrieren, bringt er Klassiker der Weltliteratur ebenso originell wie überzeugend mit den Lebensweisen fremder Völker in Verbindung. So zeigt er, dass das Vergessen alle Menschen gleichermaßen betrifft.
Aber was vergessen wir eigentlich? Gibt es ein „Rohmaterial“ menschlicher Erfahrung, eine „reine“ Erinnerung? Augé verneint. Alles ist immer schon in einen narrativen Kontext eingebettet, in eine Geschichte, die dem Geschehenen Bedeutung zuweist. Man sieht nicht die Sache selbst, sondern immer nur den eigenen Blick auf sie. Das betrifft auch Augés Fachgebiet, die Ethnologie, das Beschreiben anderer Kulturen. Auch hier ist die objektive Beobachtung fremder Gebräuche eine Illusion. „Denn die Fiktion der anderen wandelt ihren Sinn, sobald wir uns darüber bewusst werden, dass jeder von uns in Fiktionen lebt.“ Und diese Fiktionen – Arten und Weisen, wie wir unser Leben erzählen, es strukturieren und ihm so Bedeutung verleihen – werden laut Augé sowohl individuell als auch kollektiv hauptsächlich durch das Vergessen in Form gebracht.
Wir müssen vergessen, um gegenwärtig zu bleiben
Doch welche Formen des Vergessens gibt es? Zum einen nennt Augé die Rückkehr beziehungsweise Wiederkehr. „Ihr Anliegen ist es, eine verlorene Vergangenheit wiederzufinden, indem die Gegenwart und die unmittelbare Vergangenheit vergessen, und eine Kontinuität zur älteren Vergangenheit hergestellt wird.“ Diese „Suche nach der verlorenen Zeit“ ist immer auch die Suche nach dem früheren Ich.
Die zweite Form nennt er „Schwebezustand“, ein Moment radikaler Gegenwärtigkeit, in dem sowohl Vergangenheit als auch Zukunft für einen Moment aufgehoben sind – wie im Flow oder in der Liebe. Und es gibt den Neubeginn – sein „Anliegen ist es, die Zukunft wiederzufinden, indem die Vergangenheit vergessen wird“. Allen Formen gemein ist ein selektiver Umgang mit der Zeit. Dieser dient zugleich dazu, dem Dasein Gestalt und Bedeutung zu verleihen. Wie kann man zur Kindheit zurückkehren ohne Abkehr vom Jetzt? Wie sich hingeben ohne Distanz zu allem, was nicht dieser Augenblick ist? Wie einen Schlussstrich ziehen und neu beginnen, wenn alles gespeichert bleibt?
Nach Augé erweitert das Vergessen das Leben um das, was gewesen ist und zugleich um den Genuss der Gegenwart. Doch vor allem liegt in ihm die Möglichkeit eines neuen Anfangs – ob als Jawort, Initiationsritus oder Vergebung. Wir müssen vergessen, sagt der Autor dieses wunderbaren Büchleins, „um weder das Gedächtnis noch die Neugier zu verlieren. (...) Man muss vergessen, um anwesend zu bleiben, vergessen, um nicht zu sterben, vergessen, um treu zu sein“.
Marc Augé: Die Formen des Vergessens
Übersetzt von Till Bardoux
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2013
105 Seiten, 12,80 Euro
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