Anthropologie als Herrschaftswissen

28.02.2011
Der Schweizer Kunsthistoriker Beat Wyss verdankt sein neuestes Werk "einem Fehler in der Aktenablage", wie er sagt. Denn im Stadtarchiv von Luzern stieß er unvermutet auf eine Zeitschrift, die in 80 Ausgaben über die Weltausstellung in Paris berichtete.
Da Fotografien Ende des 19. Jahrhunderts noch nicht massenhaft reproduziert werden konnten, versammelte das Journal Druckgrafiken "nach einer Fotografie". Über hundert Jahre später betrachtet, zeigen sie sehr viel mehr als ursprünglich intendiert. Sie geben nicht nur einen visuellen Eindruck dieser außerordentlich erfolgreichen Weltausstellung, sondern legen zudem ein ganz eigenes und in ihrer Mischung aus Foto und Grafikkunst auch eigenartiges Zeugnis der Befindlichkeit einer Epoche ab.

Es sind denn auch weniger die technischen Errungenschaften dieser Zeit, die Beat Wyss interessieren, als vielmehr deren Mentalitätsgeschichte. Ihr ist er auf der Spur entlang der Bilder und ihrer Botschaften. Etwa 100 Drucke hat Wyss dafür ausgewählt. Auf den ersten Blick künden sie von einem fröhlichen Unterhaltungsbedürfnis. Sie zeigen "exotische" Spektakel (Kamelreiten oder Bauchtanz), ethnologische Dörfer, die berühmte Amüsiermeile auf der Straße von Kairo und – natürlich – (bau-)technische Wunderwerke wie Edisons Phonografen und den alles überragenden Eiffelturm. Darüber hinaus illustrieren sie die Träume einer fortschrittsverliebten Epoche, "die getrieben von ihrem Machtwillen, ihren Hoffnungen und Illusionen, die Welt von heute vorbereitete".

Wyss fokussiert viele verschiedene Aspekte der Pariser Weltausstellung. Er beleuchtet unter anderem die "Anthropologie als Herrschaftswissen", etwa wenn er die Meile der Architekturgeschichte entlang des Quai d’Orsay beschreibt, die selbstverständlich nur als Geschichte der weißen Kultur zu lesen war. Bestechend ist auch seine Charakterisierung der Expo als Massenevent und "Pflanzstätte der globalisierten Freizeitgesellschaft".

Die größten Erfolge feierten schließlich die Imbissbudenbesitzer. Massenkonsum und Unterhaltung gingen eine bis heute innige Verbindung ein. Denn nichts liebten die Besucher mehr als ein Picknick am Quai d’Orsay, weswegen schließlich sogar die Höhle der Steinzeitmenschen geschlossen werden musste. Sie wurde als Toilette missbraucht. Das hätte man unseren Vorfahren in Gehrock und bodenlangem Kleid gar nicht zugetraut!

Beat Wyss ist ein schönes Kunststück gelungen. Er bietet eine anschauliche Darstellung der Pariser Weltausstellung und zeigt, was aus den Träumen unserer Urururgroßeltern wurde. Wenn Wyss etwa die Teilnehmer der Völkerschauen als Vorhut heutiger Migranten bezeichnet, zeigt sich das ganze, oftmals auch fatale Erbe dieser frühen Globalisierungsfantasien.

Besprochen von Eva Hepper

Beat Wyss: Bilder von der Globalisierung. Die Weltausstellung von Paris 1889
Insel, Berlin 2010
288 Seiten, 49,90 Euro