Anthony Marra: "Letztes Lied einer vergangenen Welt"

Zerstörer und Zensoren

Reproduktion eines Propaganda-Plakates, das den sowjetischen Diktator Josef Stalin (1878-1953) zeigt
Anthony Marras Erzählband beginnt im Stalinismus der 1930er-Jahre. © Deutschlandradio/ dpa / picture alliance / Jens-Ulrich Koch
Von Sigrid Löffler |
Der junge US-Autor Anthony Marra erzählt mit Vorliebe von Dingen, die er erst durch intensive Recherche kennenlernt. In seinem Band "Letztes Lied einer vergangenen Welt" verwebt er fast acht Jahrzehnte sowjetischer und russischer Geschichte kunstvoll zu einem Erzählstrang.
"Schreibe nicht über das, was du schon kennst. Schreibe über das, was du kennenlernen möchtest." Dieser Maxime folgte der junge amerikanische Autor Anthony Marra, Jahrgang 1984, bereits in seinem eindrucksvollen Debütroman "Die niedrigen Himmel" (2014), der ohne die geringsten autobiographischen Spuren auskam, stattdessen erzählt er von den Leiden der Tschetschenen in den beiden Kriegen um die abgefallene Kaukasus-Republik.
Und diese Maxime, in der sich dokumentarische Recherche, Erfindungsreichtum, psychologische Einfühlung und ein hintergründiger Humor bewundernswert amalgamieren, bestimmt auch Marras neuen Band "Letztes Lied einer vergangenen Welt". Der Autor gibt ihm die bescheidene Genre-Bezeichnung "Stories"; doch der Band entpuppt sich als virtuos verfugter zeithistorischer Patchwork-Roman, dessen einzelne Puzzle-Teile sich erst während der Lektüre allmählich verzahnen und dem aufmerksamen Leser erst retrospektiv das ganze Bild erschließen.

Irrtümer, Fehltritte und Untaten

In den neun Erzählungen des Bandes werden in chronologischen Sprüngen fast acht Jahrzehnte sowjetischer und russischer Geschichte fassbar, vom Stalin-Terror und der Gulag-Welt der 1930er Jahre bis zum turbokapitalistischen Putin- Russland der Gegenwart. Das Roman-Personal ist so raffiniert miteinander verlinkt, dass eine beiläufig erwähnte Nebenfigur der einen Erzählung zum Protagonisten einer anderen werden kann. Die Irrtümer, Fehltritte und Untaten der einen Generation wiederholen sich in der nächsten und übernächsten und setzen einen beklemmenden Kreislauf von Verrat und Denunziation in Gang.
Denn Anthony Marra ist den Themen seines Roman-Erstlings treu geblieben: Er erzählt von Menschen, die zuschanden gehen, von erstickten Lebenshoffnungen und mutwillig verwüsteten Landschaften in einem Land, in dem das Gedächtnis durch das weiterhin allgegenwärtige sowjetische Dogma der Zensur systematisch getilgt wird. Geschichte wird unentwegt umgeschrieben, die Erinnerung gelöscht und die Vergangenheit revidiert. Eine von Abgasen vergiftete und von Abwässern verseuchte arktische Bergwerkstadt rund um einen Quecksilbersee hinter dem Polarkreis, die zertrümmerte und wieder aufgebaute Stadt Grosny und eine mit Tretminen gespickte Bergwiese in Tschetschenien sind die triftigen Schauplätze für diese Geschichte vielfacher Zerstörungen – seelisch, physisch, kulturell.

Feinde werden wegretuschiert

Ein historisches Gemälde dieser Bergwiese geht von Hand zu Hand, wird beschädigt und immer wieder übermalt und retuschiert und hält als zentrale Metapher die Stories zusammen – ein Palimpsest, in dem die historischen Umbrüche eingezeichnet sind, von denen das Buch erzählt.
Nicht zufällig steht am Anfang der neun Geschichten ein stalinistischer Zensor im Terror-Jahr 1937. Er nennt sich "Korrekturkünstler" und stellt seine genialen Fähigkeiten als Porträtmaler in den Dienst des Ministeriums für Parteiagitation und Propaganda, indem er "Volksfeinde", in Ungnade gefallene Personen, aus offiziellen Fotos und Gemälden wegretuschiert und damit ihr Gedächtnis und ihre Existenz auslöscht. Er wird von seinem Neffen denunziert – das erste Opfer einer langen Reihe von Denunzianten und Verrätern, die diesen meisterlichen Roman in Erzählungen bevölkern und ihn strukturieren.

Anthony Marra: "Letztes Lied einer vergangenen Welt"
Stories
Aus dem Amerikanischen von Stefanie Jacobs und Ulrich Blumenbach
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016
343 Seiten, 22,95 Euro

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