Anschreiben gegen das Schablonen-Denken

Von Christian Gampert · 22.11.2011
Brigitte Kronauer zählt zweifellos zu den sprachmächtigsten und ambitioniertesten Schriftstellerinnen im deutschen Sprachraum. Und weil sie hervorragend über ihre Poetologie reden kann, ohne sich dabei allzu sehr in die Karten blicken zu lassen, hat die Universität Tübingen sie eingeladen, an drei Abenden Vorträge zu halten.
Sie ist auch mit 71 Jahren eine schlanke, elegante Erscheinung. Stilbewusst, möchte man sagen, weil man ja immer in der Versuchung ist, Parallelen zwischen Werk und Person aufzuspüren. Bei Brigitte Kronauer drängt sich das allerdings auf: "Die Kleider der Frauen" heißt ein Erzählband von ihr, "Die Tricks der Diva" ein anderer. Also: Frau Kronauer trägt ein graues enges Kleid, und über dem Lesepult prangt, als Projektion, ein Werk des Malers Dieter Asmus, das die Poetin Kronauer rauchend neben ein paar wollüstig gespreizten Lilien zeigt, dahinter eine seltsame Herzchentapete.

Asmus wird, ebenso wie der Philosoph Otto Böhmer, Ende der Woche ebenfalls das Wort ergreifen, und im Triumvirat fühlt Kronauer sich sowieso wohl: Irgendwo zwischen bildender Kunst und Philosophie ist ihr Schreiben angesiedelt, absolut reflektiert, aber auch absolut oberflächenfixiert – auf dieses unscheinbare kleine Alltagsleben.

"Mein Leben war uninteressant. Mein Leben war kahl, still, ereignislos und eigentlich nicht erwähnenswert."

Mit diesem Zitat des von ihr verehrten, bald 80-jährigen Ror Wolf eröffnete Kronauer ihre Vorlesungsreihe, und man ahnt schon: Die Aufgabe des Schreibenden ist es im Grunde, die Realität wiederzugewinnen und überhaupt erst interessant zu machen, ihr immer neue Nuancen, Gerüche, Bilder, Einsichten abzugewinnen, sie zu Literatur zu veredeln.

Das Bedürfnis zu schreiben geht bei Kronauer zurück auf ein Jugenderlebnis im Nachkrieg, als sie bei einem Spaziergang im Wald eine weggeworfene Krücke für eine Schlange hielt. Dieses Erschrecken hat sie für ihre Mutter erzählerisch, mimisch und gestisch nachinszeniert.

"Ich wollte meine Zuhörerin zunächst in Spannung versetzen, dann amüsieren, und ich selbst, hoffte ich, würde alles beim Erinnern und Erzählen nacherleben, vielleicht jetzt sogar atemberaubender."

Beim bloßen Schreiben aber treten dann ganz andere Probleme auf. Wie kann man einer Begebenheit wahrhaft mit Worten habhaft werden? Kronauer schilderte ihr stundenlanges Versunkensein vor einem Zookäfig, während die Schnellgucker mit gezücktem Fotoapparat an den exotischen Tieren vorbeiflanierten. Ergo: Es ist die Entscheidung für eine bestimmte Wahrnehmung und deren Bewältigung, die einen zum Schriftsteller macht – jenseits der Medien, jenseits der Seh- und Sprachschablonen.

Kronauers Gewährsleute auf dem Weg zum eigenen Schreiben sind das Hemingway-Vorbild Sherwood Anderson, der kafkaeske Hungerpoet Knut Hamsun, der schon belobigte Sprachspieler Ror Wolf, der verzweifelte Cesare Pavese. Und natürlich Nabokov, von dem man lernen kann, wie Literatur "uns formuliert".

Am Beispiel von Sherwood Anderson zeigte Kronauer, wie das geht: den Einbruch der Erotik ins Normalleben zu schildern. Er habe das Gefühl, nicht er selbst zu sein, sagt der Protagonist in Andersons "Etliche Ehen", der an sich eine Art Schwangerschaft feststellt. Natürlich ist es nur Verliebtheit, aber was für eine Bildfindung!

Als Gegenbeispiel dann Hamsun, der Wahrhaftigkeitspoet, der den Hunger bis zum Knochenabknabbern real erlitt. Er erzeugt Mitgefühl, Trauer, Schmerz gerade durch das Authentische, aber auch er erfand eine poetische Struktur für seine Hungerwellen. Nach Hamsuns Mangel dann Ror Wolfs Überfluss: am Verschlingen und Verdauen, an Unglücken, an Wortspielen. Und Pavese, der Kronauer durch vier magische Worte beeindruckt.

"Lange Zeit waren für mich Inbegriff eines des alles spendenden Romanbeginns die vier melancholisch entrückenden Wörter der älteren Übersetzung von Cesare Paveses 'Der schöne Sommer'. Sie lauten: 'Damals war immer Festtag'. Klingt das nicht wie das 'Es war einmal' der Märchen, nur ein bisschen vom Leben verwundeter?"

Die Notwendigkeit von Literatur in der Mediengesellschaft ergibt sich für Kronauer schon aus der Tatsache, dass, wer schabloniert schreibt und denkt, irgendwann auch schabloniert empfindet. Dagegen schreibe sie an, sagt sie. Auch gängige wissenschaftliche Systeme stehen bei ihr unter Vereinfachungsverdacht. Die Literatur ist sozusagen die Königsdisziplin, und Kronauer wird dann gern auch definitorisch tätig.

"Literatur macht aus der Gesellschaft wieder Einzelwesen. Sie zeigt mit dem Finger auf den Leser. Sie ist höchstpersönlich in geheimnisvoller Weise jeweils auf ihn gemünzt."

Und das geht nur durch Methode: Das Artifizielle sei das Reale, sagt Kronauer. Das Artifizielle ist aber auch das Problem ihres Schreibens, das hochkalkuliert daherkommt, voller wunderbarer Wahrnehmungen und Wortfindungen, in seiner Gespreiztheit aber bisweilen auch nerven kann. Das gilt auch für die Vorlesung: hochintellektuell, aber manchmal werden auch gut verpackte Banalitäten dargeboten.
Aber, was soll's, Kronauers Literatur ist ja auch therapeutisch zu gebrauchen.

"Literatur erleichtert unsere prinzipielle, wenn auch oft überdröhnte Einsamkeit, ja, hebt sie gelegentlich auf, indem sie unser Einsamsein, unser uneingestandenes Außenseitertum beschreibt."
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