Anschlag auf "Charlie Hebdo"

"Gegen Irre können Sie sich nicht wehren"

Der Schriftzug "Je suis Charlie"
Der Schriftzug "Je suis Charlie" ist in den sozialen Netzwerken zum Zeichen der persönlichen Anteilnahme mit den Opfern des Anschlags auf das Pariser Satiremagazin geworden - hier zeigt eine Frau in Tokio ein Schild mit dem Schriftzug. © dpa / picture alliance / Franck Robichon
Ulrich Wickert im Gespräch mit Nana Brink · 08.01.2015
Nach dem Anschlag auf "Charlie Hebdo" präsentiert sich Frankreich einig gegen den Terror. Man sei jetzt nicht mehr konservativ oder Sozialist, meint der frühere "Tagesthemen"-Moderator Ulrich Wickert,"sondern man ist Republikaner."
Ulrich Wickert, früherer "Tagesthemen"-Moderator und langjähriger Frankreich-Korrespondent, hat die Reaktionen der französischen Öffentlichkeit auf den gestrigen Anschlag gegen das Satire-Magazin "Charlie Hebdo" gewürdigt.
Er finde es "fantastisch", wie das Land sich jetzt hinter dem Spruch "Liberté" versammle, sagte Wickert am Donnerstag im Deutschlandradio Kultur. "Je suis Charlie" sei eine großartige Solidaritätskundgebung.
"Man kann nicht das ganze Land militarisieren"
Man dürfe jedoch nicht vergessen, dass Frankreich große gesellschaftliche Probleme habe. So gehe die traditionelle französische Gesellschaft schlecht mit ihren muslimischen Einwanderern um, die in den Gettos der Hochhaussiedlungen um Lyon oder Paris lebten. So hätten es Menschen, deren Namen nicht traditionell französisch klingen, bei Bewerbungsgesprächen schwer. Auch die französische Polizei sei "bekannt für ihre Härte und auch ihre Brutalität".
Wickert mahnte gleichzeitig zur Besonnenheit. Er sei keiner, der sage, man müsse jetzt mit unglaublich harten Maßnahmen durchgreifen. "Gegen Irre können Sie sich nicht wehren", betonte er. "Sie können ja nicht das ganze Land militarisieren."

Das Interview im Wortlaut:
Nana Brink: Es herrscht zwar Terroralarm Stufe eins in Paris, aber Zehntausende Menschen, und nicht nur in Paris, haben es sich gestern nicht nehmen lassen, auf die Straße zu gehen. "Je suis Charlie", "Ich bin Charlie" konnte man auf den Plakaten lesen. Aber auch im Ausland, auch hier in Deutschland hat der Anschlag auf das französische Satiremagazin "Charlie Hebdo", vergleichbar vielleicht mit unserem deutschen Magazin "Titanic", nicht ganz so scharf, also "Titanic", unsere demokratische Gesellschaft ins Mark getroffen. Viele deutsche Zeitungen, das fällt Ihnen vielleicht auf, wenn Sie an Ihrem Kiosk heute vorbeigehen, drucken auch Karikaturen von "Charlie Hebdo" ab. Keiner, der den Anschlag nicht verurteilt in der westlichen Welt. Auch der Rat der Muslime in Frankreich bezeichnet den Anschlag von Paris als barbarisch. Bis zu fünf Millionen Muslime leben ja in Frankreich, und sie fürchten, dass das ohnehin gespannte Verhältnis zur französischen Mehrheitsgesellschaft noch mehr belastet wird. Ulrich Wickert, langjähriger Korrespondent in Frankreich und Moderator der "Tagesthemen". Guten Morgen, Herr Wickert!
Ulrich Wickert: Guten Morgen, Frau Brink!
Ein Attentat von "unglaublicher Brutalität"
Brink: Sie haben lange in Frankreich gelebt und heute in einem Beitrag für die "Bild-Zeitung" geschrieben: "Dieser Anschlag trifft mich ins Herz". Wie überrascht hat es sie?
Wickert: Es hat mich doch sehr überrascht in seiner Brutalität. Ich meine, wir haben es ja schon erlebt, dass es Attentate von französischen, wie soll man sagen, Muslimen gegeben hat. Erinnern Sie sich, letztens von dem Rückkehrer aus Syrien, der in Brüssel Leute in einem Museum getötet hat. Es hat 2012 hat es ja auch dann in Südfrankreich mehrere Morde durch einen, ich will mal sagen, wirren Menschen gegeben. Und das waren immer so Attentate – dieses ist von einer unglaublichen Brutalität gewesen. Wir haben diese Art von Attentaten in Frankreich schon erlebt in den 80er-Jahren. Da waren es aber offensichtlich Attentate, die von Iran, sagen wir mal, gelenkt worden waren. Bomben in der Metro, Bomben in Renault-Verkaufsstellen und Ähnliches.
Dies ist nun etwas, wo man sagen muss, es ist so unglaublich brutal, weil es genau gezielt gewesen ist auf einzelne Personen, die getötet werden sollten. Angeblich haben ja die Attentäter innerhalb von fünf Minuten ihr Mordwerkzeug ausgeführt. Und in diesen fünf Minuten haben sie ganz bewusst in der Redaktionskonferenz von "Charlie Hebdo" gefragt: "Wer ist das, wer ist das, wer ist das?" Damit sie die Karikaturisten erschießen. Und das haben sie dann auch getan. Und auch beim Fliehen haben sie ja wieder gezeigt, wie unglaublich brutal sie gewesen sind.
Brink: Wie getroffen ist das Land? Sie kennen ja die französische Mentalität sehr gut.
Wickert: Etwas, was ich einfach fantastisch finde, ist, dass ein Land in diesem Moment dann doch sich versammelt hinter dem Spruch "Liberté" und sagt, wir sind alle getroffen. "Je suis Charlie", das finde ich eine großartige Solidaritätskundgebung. Dass man jetzt nicht mehr konservativ oder Sozialist ist, sondern man ist Republikaner. Das ist ein fester Begriff. Man darf natürlich nicht vergessen, dass es trotzdem in Frankreich unglaubliche Schwierigkeiten gesellschaftlicher Natur gibt. Aber ich will mal sagen, das traditionelle Frankreich ist mit einem Mal geeint und solidarisch.
Muslimische Minderheitsgesellschaft in Frankreich hat viele Facetten
Brink: Das sieht man ja auch vielleicht an der Aktion des französischen Präsidenten, der alle gesellschaftliche Gruppen, alle religiösen und politischen ja auch, in den Elysée-Palast geladen hat. Sie sagen, Frankreich ist sehr solidarisch, aber eigentlich die Gesellschaft doch gespalten, auch vielleicht noch mehr durch diesen Anschlag, zwischen der Mehrheitsgesellschaft und der muslimischen Minderheitsgesellschaft?
Wickert: Es ist schwierig, von der muslimischen Minderheitsgesellschaft zu sprechen, weil die ja auch verschiedene Facetten hat. Es gibt ein riesiges Problem seit Jahrzehnten in Frankreich, und das sind die Gettos, würde ich mal sagen. Das sind die Hochhaussiedlungen um Lyon herum, um Paris herum, in denen sozial, ich würde mal sagen, ausgesprochen benachteiligte Leute leben. Und diese benachteiligten Leute, das sind eben hauptsächlich die muslimischen Einwanderer. Und die französische traditionelle Gesellschaft geht mit denen sehr, sehr schlecht um.
Die Polizei in Frankreich ist bekannt für ihre Härte und auch für ihre Brutalität im Umgang. Und wenn einer "une sale gueule" hat, also – das ist ein böser Begriff – sozusagen eine "schmutzige Fresse", dann ist gemeint, der sieht aus wie ein Marokkaner oder wie ein Tunesier oder wie ein Araber, dann wird der halt mal schnell kontrolliert. Und dann wird man da auch mit dem sehr unfreundlich umgehen. Wenn jemand aus diesen Vierteln sich bewirbt und mit einem Namen, der kein traditioneller französischer Name ist, einen Job haben will, dann hat er es schwerer als einer mit französischem Namen. Das ist etwas, das aber nicht unbedingt zu dieser Brutalität führt. Diese Brutalität – ich selbst kann sie mir nicht erklären, wie ich mir auch die Brutalität in Syrien und im Irak, also von ISIS, ich persönlich mir nicht erklären kann, außer, dass man sagt, das sind Fanatiker.
"Sie können nicht das ganze Land militarisieren"
Brink: Fällt es Ihnen da schwer, liberal zu bleiben?
Wickert: Nein. Das fällt mir nicht schwer. Weil ich den Grundsatz von Voltaire für mich verinnerlicht hatte: "Ich bin gegen deine Meinung, aber ich werde mein Leben geben dafür, dass du deine Meinung äußern kannst." Also insofern bin ich jetzt nicht einer, der sagt, jetzt müssen wir mit unglaublich harten Maßnahmen durchgehen. Sie können gegen solche Attentäter sich nicht wehren. Das haben Sie ja gesehen: Es gab einen Leibwächter – der Chefredakteur und Karikaturist Charb, der hatte ja einen Leibwächter dabei, der wurde als erstes erschossen. Es wurden zwei Polizisten erschossen. Sie können ja nicht das ganze Land militarisieren. Das können Sie gar nicht.
Brink: Entfremden Sie diese Dinge, die wir seit gestern sehen, von Ihrem Frankreich?
Wickert: Nein, das entfremdet mich nicht von meinem Frankreich. Ich habe aus Frankreich von meinen Freunden so viele Reaktionen des Entsetzens auch mitbekommen. Das ist einfach eine Geschichte, wo man sagen muss, hier sind zwei Irre, die etwas gemacht haben. Wir müssen uns überlegen, wie kommt es dazu, dass sie es gemacht haben. Aber gegen Irre können Sie sich nicht wehren, das ist leider so.
In Deutschland gibt es diesen Hass noch nicht
Brink: Es wird Sie ja nicht überraschen, wenn wir den Blick auch nach Deutschland wenden. Wird diese Entwicklung, die wir da sehen, könnte die auch uns erreichen?
Wickert: Ich will das nicht ausschließen, denn wir haben ja schon einige – ich bleibe mal bei dem Wort – Irre gehabt. Die Sauerlandgruppe, wenn Sie sich da entsinnen, dann die Geschichte mit der blauen Tasche mit der Bombe auf dem Bahnhof in Bonn. Also so was hat es schon gegeben, und ich würde es nicht ausschließen. Auf der anderen Seite habe ich das Gefühl, dass es in Deutschland diesen unglaublichen Hass in der Form noch nicht gibt. Nun wissen wir nicht, und da müssen wir ganz vorsichtig sein mit solchen Aussagen, wir wissen nicht, was passiert, wenn deutsche Fanatiker aus Syrien zurückkommen, denn da sind ja auch einige Hundert.
Brink: Ulrich Wickert, "Tagesthemen"-Moderator, ehemaliger, und langjähriger Korrespondent in Frankreich. Herzlichen Dank für das Gespräch hier in "Studio 9"!
Wickert: Bitte, Frau Brink!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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