Anschlag auf Breitscheidplatz

Das Gedenken vier Jahre nach dem Terrorakt

08:41 Minuten
Zwei Passantinnen schauen sich am Breitscheidplatz das Mahnmal für die Opfer des Attentats vom 19. Dezember 2016 an.
Am Breitscheidplatz in Berlin erinnert ein Mahnmal an die Opfer des Anschlags vom 19. Dezember 2016 an. © picture-alliance/dpa/Christoph Soeder
Wolfgang Kaschuba im Gespräch mit Axel Rahmlow  · 19.12.2020
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Über den Wandel der Täterbilder spricht der Kulturwissenschaftler Wolfgang Kaschuba anlässlich des Terroraktes auf dem Berliner Breitscheidplatz vor vier Jahren. Er bedauert die unzureichende Unterstützung für die Hinterbliebenen des Anschlags.
Zum vierten Jahrestag des islamistischen Terroranschlags am Berliner Breitscheidplatz erinnerte der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) an die Opfer: "Den Toten und Verletzten schulden wir einen Moment des Einhaltens, der Besinnung und der Erinnerung", sagte er in einer Ansprache. Am 19. Dezember 2016 hatte der Attentäter Anis Amri einen Lkw auf den Berliner Weihnachtsmarkt gesteuert und zwölf Menschen getötet. Mehr als 50 Menschen wurden schwer verletzt.
Wolfgang Kaschuba im Porträt
Der Kulturwissenschaftler und Ethnologe Wolfgang Kaschuba wünscht sich mehr Anteilnahme für die Hinterbliebenen des Terroraktes vom Berliner Breitscheidplatz. © Privat
"Das macht schon nochmal einen Unterschied, ob man Szenen aus Brüssel und Paris gesehen hat oder Szenen aus Berlin, das rückt einem dann näher", sagt unser Studiogast, der Kulturwissenschaftler Wolfgang Kaschuba. Er erinnere sich noch sehr gut an die Tage, weil er damals gerade das Berliner Institut für Migrationsforschung mitgegründet habe. "Da kam natürlich dieses Bild der Islamisten, der Geflüchteten, der Migranten, die als Bedrohung auftauchen", erinnert sich Kaschuba an die Reaktionen.
Er habe die Sicherheitsbehörden damals gegen einige Vorwürfe verteidigt. Gerade der Fall Amri habe gezeigt, wie stark das Bild des Islamisten von der Vorstellung geprägt gewesen war, dass es sich um zutiefst religiöse junge Männer handele. Als gingen sie mit dem Koran unter dem Arm zum Terror über. Dabei funktioniere das so nicht, sagt Kaschuba.
"Amri kam aus einem Zwischenmilieu", so Kaschuba. In der Berichterstattung habe sich nachvollziehen lassen, wie er als möglicher Verdächtiger beim Bundesnachrichtendienst (BND) zunächst aus dem Raster verschwunden sei. "Weil einer, der Alkohol trinkt, der Döner mit Schweinefleisch isst, der zu Prostituierten geht, der Rauschgift nimmt, entsprach nicht diesem Bild in der Öffentlichkeit."

Falsches Täterbild

Amri habe eben nicht in das Raster des religiösen Gefährders gepasst. "Er wurde in diese Halbwelt abgeschoben, weil die öffentliche Debatte in diese Richtung ging", so Kaschuba. Deshalb habe der BND ihn nicht mehr systematisch beobachtet.
"Weil man der Meinung war, nur religiöse Fanatiker begehen Terroranschläge und wir wissen inzwischen, dass diese Erkenntnis überwiegend falsch ist", sagt Kaschuba. "Fast alle Attentäter kommen eher aus einer persönlichen Krise als aus einer zutiefst religiösen Überzeugung oder Familie."

Mehr Hilfe für die Hinterbliebenen nötig

Eine völlig ungenügende Betreuung der "Zurückgebliebenen", kritisiert Kaschuba. Das gelte für die Überlebenden des Anschlags ebenso wie für die Angehörigen der Opfer. Es lasse sich für sie leichter weiterleben, wenn sich Gruppen zusammenfänden, um das Geschehen zu verarbeiten und Erfahrungen auszutauschen.
"Die brauchen natürlich institutionellen Rückhalt, die brauchen finanziellen Rückhalt." Aber da passiere viel zu wenig. Dabei sei das kein individuelles Problem, sondern hätte jeden treffen können. "Zusammenrücken der Gesellschaft, für das dann die Politik verantwortlich ist, wäre angesagt gewesen", so Kaschuba.
(gem)

Der Ethnologe und Kulturwissenschaftler Wolfgang Kaschuba ist Abteilungsleiter im Institut für Migrationsforschung (BiM) der Berliner Humboldt-Universität. Er ist zudem Vorstandsmitglied der Deutschen Unesco-Kommission und sitzt im Rat für Migration.

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