Anregende Selbsterfahrung eines Bildungsbürgers

22.07.2010
Karl-Markus Gauß, geboren 1954 in Salzburg, hat sich als Schriftsteller, Publizist und Herausgeber der Zeitschrift "Literatur und Kritik" einen Namen gemacht. "Im Wald der Metropolen" beschreibt eine spannende Reise durch europäische Städte, Zeitalter und Befindlichkeiten.
Das Gesicht seines einsamen Tischnachbarn in einem Restaurant der französischen Stadt Beaune ist zu einer Grimasse erstarrt, die sich dem Erzähler tief einprägt. Er glaubt, im wahren Leben Zeuge eines Elementarereignisses geworden zu sein, in dem Verzweiflung und Hochmut, Bösartigkeit und Schmerz einzigartig zusammenspielen. Zugleich ruft der Grimassenschneider aus Beaune einen Eindruck wach, den der Erzähler Jahrzehnte zuvor bei der Betrachtung eines Kunstwerks im Wiener Belvedere gewonnen hatte. Dort hatte er sich von dem "Erzbösewicht" fesseln lassen, einem wild grimassierenden Gesicht als Skulptur von Franz Xaver Messerschmidt, dem wegen seiner extravaganten Unbotmäßigkeit verstoßenen habsburgischen Hofkünstler.

In seinem bei Zsolnay erschienenen Buch "Im Wald der Metropolen" verknüpft der österreichische Schriftsteller Karl-Markus Gauß unermüdlich alltägliche Reiseeindrücke mit politischen Betrachtungen sowie kulturgeschichtlichen Reminiszenzen und Entdeckungen zu einem großen Mosaik Europas. So macht sich Gauß auf die Suche nach Vuk Karadžić, einem Mann des 19. Jahrhunderts, der als Vater der serbischen Schriftsprache und Nation gilt.

Die Suche führt nach Wien, wo Karadžić fünf Jahrzehnte seines Lebens verbrachte und mit anderen südslawischen Gelehrten – wie dem Slowenen Jernej Kopitar – Pläne für ein künftiges Jugoslawien schmiedete, sowie nach Belgrad. Dort findet Gauß nicht nur eine allgegenwärtige "Vuk"-Verehrung, sondern auch die "freundlichsten Europäer" der Gegenwart.

Auf dem Weg von Belgrad nach Zagreb besichtigt er Jasenovac, das berüchtigte Vernichtungslager der Ustascha-Faschisten, das sich nach den jugoslawischen Zerfallskriegen in einem beklagenswerten Zustand befindet. Im tschechischen Brünn spürt der Reisende den Wirkungen des Regens auf die Seele der Menschen nach und entreißt bei dieser Gelegenheit tschechische Dichter dem Vergessen, die es im Gefolge der Katastrophen des 20. Jahrhunderts nach Portugal oder in eine britische Heilanstalt verschlagen hat. Im oberschlesischen Oppeln bewundert Gauß eine nach dem Zweiten Weltkrieg originalgetreu wieder aufgebaute Altstadt mit venezianischem Flair zwischen Oder und Oderkanal. Zugleich beobachtet er nicht ohne Skepsis den Versuch einiger Enthusiasten, eine eigene – von deutschen, polnischen und tschechischen Einflüssen geprägte – schlesische Sprache zu etablieren.

Gauß erzählt auf 300 Seiten in 13 lose miteinander verbundenen Geschichten anregend und nicht selten mitreißend, ohne sich in die Fülle der Einzelheiten zu verlieren. Mit Ironie bedenkt er nicht nur manche Erscheinungsform des Zeitgeistes, sondern auch seine eigenen, hier und da aufscheinenden Ängste vor einem alsbald bevorstehenden Herztod. Der eitlen Selbstbeschau entgeht er dabei meist mithilfe der nächsten kulturhistorisch-philosophischen Abschweifung. Über dem Ganzen schwebt die Selbsterfahrung des Bildungsbürgers, der im Reisen den allmählichen Wandlungen seines Ichs auf die Spur zu kommen glaubt. Das ergibt eine allemal spannende Fahrt durch europäische Städte, Zeitalter und Befindlichkeiten.

Besprochen von Martin Sander

Karl-Markus Gauß: Im Wald der Metropolen
Paul Zsolnay Verlag Wien,
304 Seiten, 19,90 Euro