Dokudrama über Fritz Lang

Wie das Meisterwerk "M" entstanden sein könnte

Ausschnitt eines Plakates zu Fritz Langs Film "M - Eine Stadt sucht einen Mörder".
Ausschnitt eines Plakates zu Fritz Langs Film "M - Eine Stadt sucht einen Mörder". © picture alliance / dpa / Nestor Bachmann
Norbert Grob im Gespräch mit Susanne Burg · 09.04.2016
Der Filmemacher Gordian Maugg ist ein Meister der Collage von Archivmaterial mit fiktiven Passagen. Auch Fritz Lang und der Entstehung von "M" nähert er sich nun in einem Dokudrama. Der Filmwissenschaftler Norbert Grob hält das - trotz ein paar inhaltlicher Schwächen - für gelungen.
Susanne Burg: Es geht um ein Meisterwerk der Moderne, um "M – Eine Stadt sucht einen Mörder" von Fritz Lang aus dem Jahr 1931. Am Donnerstag kommt ein Spielfilm in die Kinos, der nachspürt, wie "M" entstanden ist beziehungsweise entstanden sein könnte. Entstanden sein könnte, weil der deutsche Filmemacher Gordian Maugg wie schon in früheren Filmen Realität und Fiktion vermischt. Er erzählt, wie Fritz lang nach Hause kommt, einen Artikel über einen Serienmörder liest, der in Düsseldorf sein Unwesen treibt und sich auf den Weg dorthin macht. In Düsseldorf beobachtet Fritz Lang, gespielt von Heino Ferch, dann den Serienmörder Peter Kürten bei einer Vernehmung. Und das klingt so:
(Einspieler)
Ja, das am Ende hier ist ein Ausschnitt gewesen aus dem echten Film "M – Eine Stadt sucht einen Mörder". Gordian Maugg arbeitet viel mit solchen Collagen. Wie gut das aufgeht, will ich jetzt von jemandem wissen, der sich wie kaum ein anderer mit dem Leben von Fritz Lang auskennt, mit dem Filmwissenschaftler Norbert Grob. Er hat die Biografie "Fritz Lang" geschrieben, die vor zwei Jahren erschienen ist, und er hat sich den neuen Film für uns angesehen und sitzt jetzt in einem Studio in Mainz. Guten Tag, Herr Grob!
Norbert Grob: Guten Tag!
Burg: Ein Film, der halb wahr, halb spekulierend erzählt, wie "M" entstanden ist beziehungsweise hätte entstanden sein können – wie überzeugend fanden Sie diesen Ansatz?
Grob: Es ist eine Vision des Filmemachers Gordian Maugg, und sie ist sehr beeindruckend als Film. Gerade, was Sie eben angesprochen haben, die collagenartige Inszenierung, die Archivmaterial mit erzählerischen Passagen mischt, das ist schon sehr gelungen, sehr spannend und ästhetisch sehr dicht. Die Vermengung des Films allerdings jetzt mit den fiktiven Elementen, die sind ein wenig seltsam, auch wenn sie so, wie Sie es gerade gemacht haben, wunderbar aufzugehen scheinen. Der Film ist ja im Grunde die Geschichte eines Fritz Lang, der gezeichnet wird als ein Mensch, der von inneren Dämonen zerfressen wird. Er hat eine Neigung zum Dunklen, zum Halbdunklen, zum Kriminellen auf der einen Seite, und auf der anderen Seite hat er ein sehr scharfes Gespür für die Dinge der Zeit.
Schauspieler Thomas Thieme, Regisseur Gordian Maugg und die Schauspieler Heino Ferch (Fritz Lang) und Samuel Finzi bei Dreharbeiten zum Kinofilm "Fritz Lang - Der Andere in uns".
Schauspieler Thomas Thieme, Regisseur Gordian Maugg und die Schauspieler Heino Ferch (Fritz Lang) und Samuel Finzi bei Dreharbeiten zum Kinofilm "Fritz Lang - Der Andere in uns".© picture alliance / dpa / Horst Ossinger
Burg: Fritz Lang gräbt sich ja im Film immer weiter in diesen Fall, in diesen Mordfall hinein. Im Grunde genommen wird der Künstler auch so ein bisschen als wahnsinniges Genie dargestellt. Er trinkt, kokst, hat Sex mit Prostituierten – ist das nicht ein bisschen ein zu enges Bild von Fritz Lang und letztlich auch das Klischee eines ja etwas wahnsinnigen Künstlers?
Grob: Ja, aber das ist nun mal der Ansatz von Gordian Maugg, und den respektiere ich. Lang selbst hat immer darauf hingewiesen, dass sein Drehbuch fertig gewesen sei, bevor er von dem Fall Peter Kürten überhaupt gehört habe. Er hat immer wieder darauf hingewiesen, er hat den Fall Fritz Hamann Anfang der 20er-Jahre untersucht, den Doppelmord an den Geschwistern Fees in Breslau untersucht, und vor allen Dingen den Mord an der kleinen elfjährigen Hilde Zepernick in Charlottenburg. Also Lang hat recherchiert und hat sich in der Tat in die Psyche vielleicht von Kindermördern hineingedacht, aber so, wie das Gordian Maugg jetzt so eindimensional auf der Ebene mit Kürten macht, so war das wahrscheinlich nicht. Ich will aber jetzt auch nicht besserwisserisch sagen, das und das ist falsch, und im Film, das und das müsste man monieren. Darum geht es gar nicht. Aber natürlich war Fritz Lang so lange nicht in Düsseldorf, und selbstverständlich hat er auch nicht das Buch in Düsseldorf geschrieben.
Burg: Sie haben auch in Ihrer Biografie geschrieben, dass Fritz Lang immer abgestritten hat, dass sein Film eine Fantasie über Peter Kürten gewesen sei, dass aber die Filmhistoriker und Kriminologen lange das Gegenteil nachzuweisen versuchten. Inwieweit ist der neue Film jetzt auch in dieser Ecke zu verorten?
Grob: Ich glaube, der Gordian Maugg geht eben dieser einen Spur nach, die etwa Thorsten Kaiser in einem Film, der, glaube ich, vor zehn Jahren entstanden ist, schon mal aufgenommen hat. Meine Theorie wäre eher, dass in der Tat das Buch fertig war. Aber zwischen Buchschreiben und Inszenierung liegt ja eine ganze Menge Zeit. Und da, denke ich mir, hat er in der Tat noch eine ganze Reihe von kleineren Details aufgenommen, die es eigentlich nur in dem Fall Peter Kürten gab.

Grandiose Vermengung von Leben und Vision

Burg: Inwieweit ist es überhaupt relevant, wie wichtig der Fall Peter Kürten für Fritz Lang war?
Grob: Na ja, in dem Film ist das wichtig. Für "M", glaube ich, war das nicht ganz so wichtig. Der Film legt ja nahe, dass der Fritz Lang sich immer weiter hineindenkt in die Psyche des Peter Kürten, und danach erst in der Lage ist, das Buch zu Ende zu schreiben. Und das stimmt natürlich so nicht. Aber noch einmal: Das ist eigentlich egal. Ich finde es überzeugend, wie der Maugg das anlegt, und ich finde es überzeugend, wie er verschiedene Momente aus dem Leben Fritz Langs doch integriert und in seine Vision einholt. Von der Vermengung des Archivmaterials mit diesen Erzählphasen ganz abgesehen, die sind stellenweise grandios. Aber dafür ist Gordian Maugg ja auch bekannt. Denken Sie an seinen Film "Zeppelin", das ist etwas, was er wie kein anderer hierzulande beherrscht.
Der Regisseur, Schriftsteller und Filmproduzent Fritz Lang (1890-1976) auf einem undatiertem Foto.
Der Regisseur, Schriftsteller und Filmproduzent Fritz Lang (1890-1976) auf einem undatiertem Foto.© dpa / picture alliance
Burg: Sie sagten eben, wie er eben auch das Leben von Fritz Lang, sein Denken, mit in den Film reinbringt. Ganz wichtig sind auch im Film von Gordian Maugg die Frauen im Leben von Fritz Lang. Seine erste Ehefrau, Elisabeth Rosenthal, die durch einen Schuss ja aus Langs Revolver starb. Seine zweite Gefährtin dann auch, die Schriftstellerin und Drehbuchautorin Thea von Harbou. Im Film wird diese Ehe schon als Zweckgemeinschaft geschildert. Bei der ersten Ehefrau geht es im Film von Gordian Maugg viel um Unaufgearbeitetes, um Schuld. Wie sehr hat der Tod der ersten Frau denn Fritz Langs Filme tatsächlich beeinflusst?
Grob: Das wird ja immer wieder behauptet. Es gibt die Biografie eines amerikanischen Kollegen, Patrick McGilligan, "Nature of the beast", der in der Tat im Grunde davon ausgeht, dass da nicht nur ein Tötungsfall, sondern ein Mord vorlag. Es gibt dafür überhaupt keine Beweise, und alle, die bisher wirklich sorgsam hier in Berlin recherchiert haben, haben da nichts herausbekommen. Der Arzt hat festgestellt, das war ein Unglücksfall, das war nicht Gennat wie in dem Film "Fritz Lang", sondern es war der Arzt. Der Gennat hat damit überhaupt nichts zu tun gehabt mit diesem Fall von Elisabeth Rosenthal.
Es ist davon auszugehen, dass es in der Tat ein Unfall war, weil in der Zeit – das war ja 1920 –, da war der Fritz Lang noch ein kleiner Nachwuchsregisseur. Er hatte gerade mal die "Spinnen" gedreht oder "Harakiri", hatte noch nicht einmal den "Müden Tod" gedreht. Also, da gab es auch keine Hilfe von außen oder auch von irgendwelchen Produzenten oder hochrangigen Politikern. Das war gar nicht denkbar.

"Was mich an dem Film ein wenig ärgert – die Frauen"

Das ist aber auch etwas, das muss ich schon sagen, was mich an diesem Film ein wenig ärgert – die Frauen. Zum Beispiel Thea von Harbou, die wird ja da als so eine tranige, ältere Dame dargestellt, die irgendwie gar nichts zu sagen hat. Die von Harbou war eine unglaublich elegante, starke Frau. Die hat an jedem Buch mitgeschrieben, und selbstverständlich hat sie auch am Ende von "M" mitgeschrieben. Sie hatte Streit in der Zeit mit Lang, die hatten sich ein bisschen entfremdet. Da hat sie einen Roman geschrieben. Der Titel war "Du bist unmöglich, Joe", und der Roman handelt von einer Frau, die auf dem Wege ist, sich ein eigenes Leben jenseits von Männern, die sie immer wieder bedrängen und demütigen, aufbauen will. Die Thea von Harbou ist hier in diesem Film von Maugg leider ein bisschen unterbelichtet.
Burg: Und noch mal zu der Figur von Elisabeth Rosenthal. Meine Frage vorhin ging auch ein bisschen in die Richtung, wie sehr dieser Tod, wie auch immer er jetzt vonstatten ging, Motive von Schuld in Fritz Langs Filmen dann immer wieder – also inwieweit diese Motive darauf zurückzuführen sind.
Grob: Es hat ihn beschäftigt. Wir wissen von der Filmhistorikerin Lotte A. Eisner, die sehr eng mit Lang befreundet war, bis zu seinem Tod, wir wissen, dass ihn sehr mitgenommen hat, dass er nach dem Vorfall von der Polizei verhört wurde und einige Dinge nicht nachweisen konnte. Deshalb hat er sich von diesem Tag, also von 1920 an, vorgenommen, jeden Tag alles in seinen Journalen zu notieren, was er gerade getan hat oder tun will oder tun wird. Das heißt, er war manisch besessen davon, auf alle Fälle nachzuweisen, wenn er gefragt wird, was er an diesem oder jenem Tag getan hat. Das ist sicher.
In den Filmen, das muss man natürlich auch immer wieder sagen, geht vieles um die Frage von Schuld und der Anschein von Unschuld, oder die Frage von Unschuld mit dem Anschein von Schuld, das hat ihn sein Leben lang nicht verlassen. Patrick McGilligan sagt, das weist darauf hin, dass das doch stärker mit dem Tod von Thea Rosenthal zu tun hat. Ich glaube das nicht, weil das Verhältnis von Lang zu Frauen war eher zweischneidig.
Er hat sehr starke Frauen bewundert, wie etwa die Harbou, wie seine Mutter, wie seine Großmutter. Das hat ihn sehr geprägt. Und auf der anderen Seite hat er natürlich Frauen, wo es nur ging und geht, ausgenutzt, hat sie für sich ausgebeutet. Er ist in der Tat zu Huren gegangen, das wissen wir, das hat er bis ins hohe Alter gemacht. Er hat jede schöne Frau, die ihm gefiel, in den Filmstudios versucht zu verführen, und er hat wahrscheinlich wegen dieser Dinge die einzige Frau verloren, die er je geliebt hat, nämlich Gerda Maurus. Und leider spielt die in diesem Film von Gordian Maugg auch keine Rolle. Aber in der Zeit war er im Grunde noch mit ihr zusammen.

Fritz Lang suchte Nuancen zwischen Lärm und Stille

Burg: "M" ist ja dann 1931 herausgekommen. Es war Fritz Langs erster Tonfilm. Der Ton ist überhaupt sehr wichtig im Film selbst. Wie zentral ist denn "M" für das Verständnis von Fritz Langs Schaffen überhaupt?
Grob: Für Fritz Lang ist "M" wirklich einer der ganz, ganz großen Filme. Ich weiß nicht, ob Sie das wissen, dass in den 1990er-Jahren, ich glaube, es war '95, eine Frage an Filmjournalisten, Filmwissenschaftler, Filmhistoriker, Filmverleiher und so weiter ging, was ist der wichtigste deutsche Film aller Zeiten? Und da stand "M" an erster Stelle. Ich glaube, dass all das, was Lang vorher gemacht hat, dieses Untersuchen, immer weiter zu gehen mit den Ausdruckmöglichkeiten des Films auf der Stummfilmebene in "M" auch hineingeht in die Untersuchung der Tonebene. Er wollte zwischen Lärm und Stille genauso neue Nuancen finden, wie er in den Stummfilmen quasi seine Bilder zwischen Schwarz und Weiß entwickelt hat.
Burg: Das war ja auch Ende der Zwanziger, Anfang der Dreißiger die Zeit, in der die Städte boomten und auch viele Künstler fasziniert waren von diesem Kosmos der Großstadt. 1929 ist "Berlin Alexanderplatz" erschienen, der Roman von Alfred Döblin, 1925 "Manhattan Transfer" von John Dos Passos. Wie radikal ist das, was Fritz Lang hinsichtlich des Bildes der Großstadt macht, das er in "M" zeichnet?
Grob: Nein, das ist für mich eines der wesentlichen Dinge, weil er hat ja immer davon gesprochen, ich möchte mit meinem Film "M" wie mit einem Scheinwerfer auf verschiedene Teile der Stadt schauen. Das sind die Polizisten, das sind die Ring-Vereine, also die Vereine von Bettlern und Dieben und Einbrechern. Das sind die Opfer. Da ist der Täter, der ist manchmal sanft und manchmal brutal, und manchmal ist er ein Opfer. Und wir sehen insgesamt, auch durch die Architektur der Straßen, die Verwinklung der Hinterhöfe in Berlin, wir sehen, im Grunde ist die Stadt ein Moloch. Sie ist eine Hölle, sie ist ein Chaos. Aber auf der anderen Seite ist sie auch eine große Verheißung. Und das hat mir an dem Film von Gordian Maugg besonders gut gefallen, wie er anfangs Berlin gezeichnet hat, diese Mischung aus neuen Blicken und Archivmaterial. Da wird etwas in der Tat sichtbar, was, glaube ich, in der Fantasie von Fritz Lang eine große Rolle spielte.

Dem menschlichen Grauen auf der Spur

Burg: Noch eine letzte Frage. Es ist ja auch der Triebtäter eine zentrale Figur, im Jahr 1931. Wie einzigartig war das eigentlich?
Grob: Ich glaube, es gab schon einige Gangster-, es gab einige Gaunerfilme, aber es gab noch keinen Serienmörderfilm. Das ist wirklich das erste Mal. Und auch da bin ich der Auffassung, dass Lang und die Thea von Harbou gemeinsam nachgedacht haben, was ist eigentlich das Grauenhafteste, das Grässlichste, was man von den Menschen erwarten kann, und dann haben beide gesagt, das ist der Drang, Kinder zu töten. Also, es war ganz bewusst aufgenommen und ausgesucht, um darüber dann im Grunde die Befindlichkeit einer Großstadt zu formulieren.
Und denken Sie nur an den Polizisten Gennat, der ja auch eine große Rolle spielt bei Gordian Maugg, dass da plötzlich etwas Neues entstanden ist. Plötzlich gibt es Spurenuntersuchungen, Fingerabdrücke, und das ist nun wirklich der reale Ernst Gennat gewesen, der Kriminalkommissar von Berlin, der das immer weiter getrieben hat, der so etwas wie ein Mörder- oder ein Morddepartment hier in Deutschland überhaupt erst kreiert hat. Und das hat Lang natürlich gesehen und gefunden und natürlich hat er auch mit Gennat geredet und sich inspirieren lassen und hat dann auch diese Figur als seinen Kommissar Lohmann, der die Polizeihauptrolle spielt in "M" und danach noch mal in "Testament des Dr. Mabuse" nach seinem Bilde geformt.
Burg: Also eine gute Gelegenheit, sich noch mal mit dem Meister Fritz Lang auseinanderzusetzen. Der Film von Gordian Maugg kommt am Donnerstag in die Kinos. Er zeichnet die Entstehung von Fritz Langs Film "M – Eine Stadt sucht einen Mörder" nach. Über beide Filme, "Fritz Lang" und "M" habe ich gesprochen mit dem Filmwissenschaftler Norbert Grob. Von ihm stammt auch die Biografie "Fritz Lang". Vielen Dank!
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