Annette Pehnt: "Alles was Sie sehen ist neu"

Wer zu Hause bleibt, verpasst nichts

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Buchcover zu Annette Pehnt: "Alles was Sie sehen ist neu"
"Alles was Sie sehen ist neu" - aber nicht unbedingt lesenswert, wie Annette Pehnts Roman zeigt. © Piper Verlag
Jörg Magenau  · 04.04.2020
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Annette Pehnt erzählt in ihrem Roman "Alles was Sie sehen ist neu" über eine Reisegruppe in einer an China erinnernden, fiktiven Diktatur. Vermutlich unabsichtlich schreibt sie über ein Phänomen, dessen Verlust man nicht weiter bedauern muss.
So schnell kann es gehen. Da erscheint ein neuer Roman mit dem Titel "Alles was Sie sehen ist neu", und schon im Moment des Erscheinens ist er uralt. Was könnte es in Corona-Zeiten Ferneres geben als den Bericht über eine Reisegruppe, die in einem fiktiven, fernöstlich-sozialistisch-diktatorischen Land unterwegs ist, das an China erinnert? Was könnte deplatzierter sein als die Biografie eines asiatischen Reiseleiters, der nach dem Besuch des "Tempels der Freundlichkeit" und eigenen freundlichen Worten seiner Reisegruppe plötzlich abhandenkommt?
Immerhin lässt sich das als Erinnerung an die vergangenen Zeiten lesen, in denen unbeschwertes Reisen noch möglich war. Oder als Mahnung, dass derlei touristische Erkundung von Sehenswürdigkeiten schon immer überflüssig und sinnlos war, weil der Bespaßungsaufwand für gelangweilte Westeuropäer dabei unverhältnismäßig groß gewesen ist. So hat Annette Pehnt, vermutlich ohne es zu wollen, über ein kulturelles Phänomen geschrieben, dessen Verlust nicht weiter bedauert werden muss. Bleiben wir zu Hause, nichts verpasst!

Die Wirklichkeit wird unscharf

Der beste Roman von Annette Pehnt war ihr Debüt mit dem Titel "Ich muss los". Das ist lange her. Schon da ging es um einen Reiseleiter, jedoch unter umgekehrter Prämisse. Er verdiente als Touristenführer in einer an Freiburg – dem Wohnort Annette Pehnts – erinnernden Stadt sein Geld, indem er den um ihn versammelten Fremden die wunderlichsten Geschichten erfand. Es ging also nicht, wie jetzt, um ein fernes, fiktives Land, sondern darum, das Bekannte, Eigene fiktiv zu verfremden und zu bereichern. Das war so witzig wie subversiv und machte deutlich, dass es im Grunde völlig egal ist, was man den andächtig lauschenden Touristen erzählt. Diese Geschichten sind dazu da, den Oberflächen der Welt eine Tiefe zu verleihen und den Bedeutungshunger der Reisenden zu sättigen. Auf Wahrheit kommt es dabei nicht an.
Jetzt, in "Alles was Sie sehen ist neu", ist die Ich-Erzählerin mit ihrem alten Vater unterwegs, der aus Reisebüchern alles schon ganz genau weiß, sich aber nichts anmerken lässt. Die Tochter sagt über ihn: "Er ist wie eine alte Handschrift, mit weißen Handschuhen wende ich behutsam die Seiten, und manchmal finde ich etwas, das ich verstehe." Als Leser versteht man immerhin, dass die Reise für Vater und Tochter eine gemeinsame Herausforderung ist, für den Vater auch eine Bewährungsprobe im Altern. Doch allzu viel gibt die Erzählerin über dieses schwierige Verhältnis nicht preis, sie verliert sich lieber in den Details der Gruppenreise, die etwa das erste Drittel des Romans ausmachen. Unklar auch, warum die Geschichte in einem fiktiven Land spielen muss. Das fügt der Wirklichkeit nichts hinzu, sondern macht sie bloß unscharf.

Lieblos zusammengebastelt

Ganz und gar unmotiviert wechselt dann die Erzählperspektive. Vielleicht ist es der Autorin selbst langweilig geworden mit dieser langweiligen Reisegruppe, so dass sie sich so abrupt wie unmotiviert darauf stürzt, die Lebensgeschichte des Reiseleiters auszubreiten, seine Dorfkindheit, den Schulbesuch, das Studium an der Tourist Academy und so weiter, um dabei einen Menschen zu profilieren, der vor allem gut erzählen kann und aus diesem Talent schließlich seine Profession formt. Auch er scheint so ein Wirklichkeitserfinder zu sein wie einst der Held in "Ich muss los". Jeder Lebensabschnitt wird von einem anderen Zeugen berichtet, was als biografisches Darstellungsprinzip zwar reizvoll ist, dabei aber offen lässt, wie dieses Konvolut zustande kam. Handelt es sich um ein Geheimdienstdossier? Aber wie kam es dann in den Besitz der Ich-Erzählerin – oder hat das eine mit dem anderen gar nichts zu tun?
Pehnt sammelt in "Alles was Sie sehen ist neu" ein paar brauchbare Einsichten wie die, dass man "nur das sieht, was man sehen will", dass man eine Geschichte vergessen muss, um sie "immer wieder wie neu zu erzählen" oder dass Reisen "eine Form von Hypnose" ist, bei der es darum geht, solange auf eine Oberfläche zu starren, bis die darunter verborgene Substanz zutage tritt. Nur leider ereignet sich das in diesem lieblos zusammengebastelten Roman an keiner Stelle. Keine Tiefe, keine Substanz. Und wenn der Mittelpunkt der Welt angeblich im Palast der ewigen Freundlichkeit zu suchen ist, hat diese Geschichte ihre Mitte nicht gefunden, da sie sich in Belanglosigkeiten verliert.

Annette Pehnt: "Alles was Sie sehen ist neu"
Piper Verlag, München 2020
190 Seiten, 18 Euro

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