Annen: Enttäuscht über Gesundheitskompromiss

Moderation: Birgit Kolkmann · 05.07.2006
Das SPD-Vorstandsmitglied Niels Annen hat sich über den Kompromiss im Gesundheitswesen enttäuscht geäußert. Dabei gehe es auch nicht um die Frage, welche Generation am Ende draufzahle, sagte Annen. Er erklärte in Richtung Union: "Wir lassen uns da nicht untereinander ausspielen zwischen den Generationen. Wir Sozialdemokraten wollen für die gesamte Bevölkerung eine vernünftige Lösung."
Kolkmann: Höhere Kassenbeiträge, Gesundheitsfonds und Steuerfinanzierung der Kindermitversicherung - das sind die drei wichtigsten Kernpunkte der Gesundheitsreform, die allseits als fauler Kompromiss kritisiert wird. Die SPD-Seite wollte mehr Steuerfinanzierung durchsetzen - die Union die Arbeitgeber mehr entlasten und die Privatversicherungen schützen. Beide Seiten konnten nur Teilerfolge verbuchen. Und das wichtigste für die SPD: Der Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherungen bleibt erhalten - Infektionen nach Piercings und Schönheits-OPs einmal ausgenommen. Vor allem die jungen Abgeordneten der Union und der SPD sind gar nicht einverstanden mit dem Kompromiss, aber aus unterschiedlichen Gründen. Wir sind jetzt verbunden mit dem SPD-Vorstandsmitglied und ehemaligen Juso-Vorsitzenden Niels Annen. Zahlt die junge Generation am Ende drauf?

Annen: Also ich habe nicht den Eindruck, dass es Sinn macht, jetzt das Ergebnis zu bewerten, ob die alte oder die junge Generation draufzahlt. Ich habe das gelesen, von den Kolleginnen und Kollegen der Union, die möchten niedrigere Kassenbeiträge, und das sollen im Grunde die Älteren bezahlen. Wir lassen uns da nicht untereinander ausspielen zwischen den Generationen, die Sozialdemokraten wollen für die gesamte Bevölkerung eine vernünftige Lösung. Da muss ich allerdings sagen, dass ich von den Ergebnissen dieses Kompromisses sehr enttäuscht bin.

Kolkmann: Können Sie das bitte noch ein bisschen konkretisieren?

Annen: Ja, ich kann das sehr konkret fassen. Wir hatten uns vorgenommen, als Sozialdemokraten die Zwei-Klassen-Medizin in Deutschland abzubauen. Wir wollten die Wirtschaftlichkeitsreserven, hier mehr Transparenz in das System bringen, das ist uns zum Teil gelungen. Aber vor allem wir sind bei dem Versuch zumindest bis zum heutigen Zeitpunkt gescheitert, eine gerechtere Finanzierung unseres Gesundheitssystems zu organisieren, und insofern werden wir an diesem Ziel weiterarbeiten müssen.

Kolkmann: Geht es Ihnen also weniger um die Generationengerechtigkeit als um die Gerechtigkeit innerhalb der Gesellschaft allgemein?

Annen: Ich wiederhole das gerne, ich glaube nicht, dass es Sinn macht, die eine Generation gegen die andere auszuspielen. Ich will Ihnen ein Beispiel sagen: Wir haben im Moment die Situation, dass in diesem ominösen Fonds die gut Verdienenden, die in der gesetzlichen Krankenversicherung finanziert sind, einzahlen, die gut Verdienenden, die in der PKV, der privaten Krankenversicherung organisiert sind, aber nicht einzahlen. Ich glaube nicht, dass das auf Dauer gutgehen kann.

Kolkmann: Was glauben Sie, was noch rausgeholt werden kann in den Gesprächen mit den Fraktionen? Ist der Kompromiss noch nachzubessern?

Annen: Also, das halte ich erst mal für eine Selbstverständlichkeit, dass ein Gesetz, das in den Deutschen Bundestag eingebracht wird – und das ist ja erst mal ein Vorschlag, es sind erst mal Eckpunkte, die von den Parteivorsitzenden und Fraktionsvorsitzenden dort verabschiedet worden sind -, dass es dort eine breite, eine offene Diskussion geben wird, auch Expertenanhörungen. Und es gilt ja das so genannte Strucksche Gesetz, also keine Vorlage kommt aus dem Bundestag so heraus, wie sie herein gegeben worden ist. Und für mich ist der größte Knackpunkt in der gesamten Diskussion, dass wir uns eingelassen haben auf eine kleine Kopfpauschale, die, je nachdem, wie leistungsfähig die Kasse ist, in der man versichert ist, noch zusätzlich für den Beitrag, der ja in diesen neuen Fonds eingezahlt werden soll, oben draufkommt. Das ist für mich ein Punkt, wo ich auch als SPD-Abgeordneter sage, das müssen wir noch einmal hinterfragen. Und an der Stelle sehe ich dringenden Veränderungsbedarf.

Kolkmann: Sehen Sie es also so, dass da der Einstieg in eine Kopfpauschale, wie die Union ihn gefordert hat, gemacht wurde, aber nichts von dem, was die SPD sich vorstellte an Bürgerversicherung, umgesetzt worden ist?

Annen: Also der Einstieg in die kleine Kopfpauschale schmerzt sehr, weil er das System verändert. Die Belastungen, die sich dort ergeben, sind zunächst einmal gedeckelt, das haben die Sozialdemokraten in den Verhandlungen durchgesetzt. Was das aber für die mittlere Perspektive bedeutet, das kann heute keiner sagen. Wir haben ja eine Debatte über diesen Gesundheitsfonds gehabt. Und ich habe den Fonds immer so verstanden, dass wir ihn vernünftig nutzen können, wenn es dort die Beiträge der gesetzlich Versicherten gibt, die dort hineinkommen, wenn es die steuerfinanzierte Hürde (Anmerk. d. Red.: im Hörprotokoll unverständlich) gibt und zusätzlich einen Solidarbeitrag der privaten Krankenversicherungen. Wir haben keinen Solidarbeitrag der privaten Krankenversicherung, das hat die Union verhindert, und die Kanzlerin hat absprachewidrig dann dafür gesorgt, dass es keinen wirklichen Einstieg in die Steuerfinanzierung gibt. Wenn diese beiden Punkte nicht erfüllt sind, gibt es aus meiner Sicht keinen Grund, diesen Fonds einzuführen, außer man möchte die Kopfpauschale durchdrücken. Das scheint der eigentliche Hintergrund zu sein, und das ist für mich nicht akzeptabel.

Kolkmann: Erste Experten melden sich ja und sagen, die Reform müsse in den nächsten Jahren bestimmt nachgebessert werden. Wie verträgt sich denn das mit dem Anspruch, eine Reform für die nächsten zehn Jahre oder darüber hinaus zu machen?

Annen: Wissen Sie, ich bin immer ein wenig vorsichtig, wenn man von Perspektiven im Sozialsystem von 10 bis 15 Jahren spricht. Wir haben ja nun schmerzhaft in der Vergangenheit erleben müssen, dass wir Schwierigkeiten haben, für ein halbes Jahr die konjunkturelle Entwicklung präzise vorherzusagen mit den Instituten. Das ist ein atmendes, ein lebendiges System, und wir müssen die Grundlagen miteinander vereinbaren. Das ist die große Chance, die die große Koalition gehabt hat, an der wir auch weiter arbeiten müssen. Aber zu sagen, dass wir nun für die nächsten 15 Jahre an der Front Ruhe haben, das habe ich nie so richtig glauben können.

Kolkmann: Wie zufrieden sind Sie mit der SPD-Spitze über die Verhandlungen im Kanzleramt, eher eine Vier minus?

Annen: Nein, ich glaube, dass Kurt Beck in der Situation, die er vorgefunden hat, es wird ja schon seit vielen Monaten verhandelt, und er ist erst seit wenigen Monaten SPD-Vorsitzender, dass er in dieser Situation einen großen auch persönlichen Erfolg errungen hat, nämlich den ja doch fast schon unverschämten Versuch der CDU-Verhandler oder der Verhandlungsführer, die Unfälle aus dem Katalog der gesetzlichen Krankenversicherung herauszunehmen, dass er das verhindert hat, das ist ein Erfolg für Kurt Beck. Es gibt aber aus meiner Sicht berechtigte Irritationen auch über die Verhandlungsführung der Bundesgesundheitsministerin. Denn, wie sich jetzt immer mehr herausstellt, hat sie diesen Fonds bevorzugt, hat ihn auch in der Verhandlung mit vertreten, das ist aber nie SPD-Position gewesen.

Kolkmann: Es liegen Welten zwischen Union und SPD in der Frage der Gesundheitsreform. Liegt hier auch der mögliche Punkt für einen Bruch der Koalition?

Annen: Nein, das kann ich überhaupt nicht sehen. Wir haben eine außergewöhnlich schwierige Situation in der Gesundheitspolitik, weil es dort im Gegensatz beispielsweise zur Föderalismusreform, zur Steuerpolitik etc. keine Vorfestlegung im Koalitionsvertrag gegeben hat. Das hat diese Debatten auch so schwierig gemacht, weil wir mit sehr unterschiedlichen Konzepten, der Bürgerversicherung auf der einen und der Kopfpauschale auf der anderen Seite, in die Verhandlungen gegangen sind. Wir werden diese große Koalition zum Erfolg führen, aber wir bleiben natürlich zwei unterschiedliche Parteien mit unterschiedlicher Wählerschaft und Grundüberzeugung.

Kolkmann: Vielen Dank für das Gespräch!