Annäherung an den verlorenen Vater

15.05.2007
Die Geschichte ist so oder so ähnlich wohl viele tausendmal passiert: Zwei lieben sich, doch ihre Zeit ist knapp. Der Mann muss als Soldat in den Krieg, und er kommt von dort nicht mehr zurück. Die Geschichte, die Volker Braun erzählt, ist die Geschichte seiner Eltern und seiner frühen Kindheit in Dresden.
Die äußeren Daten ihrer Ehe stimmen mit denen des Hitlerregimes überein. Sie dauerte von 1933 bis 1945, als der Vater in den letzten Kriegstagen im Teutoburger Wald einen sinnlosen Tod bei der Verteidigung eines bewaldeten Hügels starb.

Volker Braun war damals sechs Jahre alt. Auf allzu viele brauchbare Erinnerungen an den Vater kann er also nicht zurückgreifen, und so ist diese kleine Erzählung über die Ehe seiner Eltern eine Annäherung an den verlorenen Vater, der seinen Namen Erich in Briefen an seine Frau zu "Ich" abzukürzen pflegte: "Dein Ich" stand unten drunter. Für den Sohn ist "Er/Ich" nun "die Person, nach der ich fahnde, der Held im Text, so deutlich wie ich werde steht er da."

In zehn knappen Prosaminiaturen von fast schon lyrischer Verdichtung nähert sich Braun der verschütteten Zeit. Wie in all seinen Texten geht er vom Material der Sprache aus, von all den Floskeln, mit denen man sich den Alltag erträglich redet und den Sätzen, die sich dem Kind eingeprägt haben. Ausgangspunkt ist ein ungeheuerlicher Satz der Mutter, lange nachdem der Vater "gefallen" war. Da sagte sie: "Wer weiß, wozu es gut war, dass er nicht wiederkam."

Braun deutet diese Äußerung als Liebesbeweis: Jetzt konnte nichts mehr geschehen, die Liebe konnte nicht mehr verloren gehen. Also erzählt er eine schrecklich schöne Geschichte, erzählt von der Hochzeit, als die Mutter im siebten Monat schwanger war, von den schwierigen Jahren, als ein Kind nach dem anderen geboren wurde, Dielen gewischt, Socken gestopft und Nägel geschnitten werden mussten und der Vater als Vertreter im Land herumreiste. Später erscheinen der Mutter diese Jahre als glücklich, und wahrscheinlich waren sie das auch. Doch es verwirrt sie, dass sie in die dunkle Zeit des Faschismus fielen. Wie geht das zusammen, Glück und Finsternis, "FAMILIEFASCHISMUS"?

Ähnlich ging es vielen Menschen nach der Wende auch mit ihren Erinnerungen an die DDR. Braun schiebt nicht nur an dieser Stelle verschiedene Zeitschichten assoziativ übereinander. Die Luftangriffe des Zweiten Weltkrieges verkoppelt er in einer kurzen Andeutung mit den Luftangriffen auf Bagdad, die 2003, als dieser Text entstand, gerade stattfanden. Diese politische Aktualisierung wirkt allerdings störend vordergründig im poetischen Gewebe eines Textes, der sich der vorsichtigen Rekonstruktion des Vergangenen verschrieben hat.

Stark ist Brauns Prosa immer da, wo er ganz auf die Bildhaftigkeit der Szenerie und auf seine sprachliche Sensibilität vertraut. Es sind geradezu archaische Momente, die er sichtbar macht: der Abschied des Vaters in Uniform, als die Mutter ihn verzweifelt festhält in einem stummen Kampf, schließlich aber, als sie einsieht, dass sie ihn nicht halten kann, ihn aus dem Raum hinausdrängt. Oder das titelgebende Mittagsmahl, der Moment, in dem die Postbotin die Todesnachricht bringt und die Mutter und ihre fünf Söhne sich am Tisch fest aneinanderklammern.

Braun montiert kursiv gesetzte Sprachmodule in den Text, die das Geschehen verbergen und doch auf obszöne Weise kenntlich machen. Vom "Heldentod" ist im Schreiben des Oberfeldarztes die Rede, von der "traurigen Pflicht", von einer "Hoffnung", der "Ausdruck gegeben" wird und natürlich von der "letzten Ruhe", zu der "gebettet" wird. So erzählt das "Mittagsmahl" auch vom stummen Aufbegehren und Sich-Abfinden, von der Anpassungsbereitschaft der Menschen und von ihrer Liebessehnsucht.

Am Ende steht ein Traum. 50 Jahre später, kurz vor ihrem Tod, träumt die Mutter von ihrem Mann. Sie ist gealtert, doch er ist so jung wie das Bildnis, das auf dem Büfett verblasste. Die Szene ist eine deutliche Reminszenz an Johann Peter Hebels Kalendergeschichte "Unverhofftes Wiedersehen", wo eine alte Frau in einer Bergarbeitersiedlung mit dem Leichnam ihres vor 50 Jahren verschütteten Bräutigams konfrontiert wird. "Wer weiß, wozu es gut war", könnte die alte Frau auch damals gesagt haben.

Rezensiert von Jörg Magenau

Volker Braun: Das Mittagsmahl
Mit Kupferstichen von Baldwin Zettel.
Insel Verlag, Frankfurt/Main 2007, 70 Seiten, 11,80 Euro