Annäherung an den Vater

Von Tobias Wenzel |
Der kolumbianische Autor Héctor Abad hat ein Buch über seinen Vater verfasst, der von Autragskillern aufgrund seines politischen Engagements getötet wurde. Jetzt liegt der Band "Brief an einen Schatten. Eine Geschichte aus Kolumbien" über den engagierten Arzt auf Deutsch vor. Abad erinnert sich bei einem Friedhofbesuch an den Vater und seine "animalische Beziehung" zu ihm.
"Dort beginnt der Golfplatz, da, hinter den Bäumen (lacht). Das ist schon seltsam”,"

sagt Héctor Abad.

Seltsam hier, auf dem Friedhof Campos de Paz im kolumbianischen Medellín. Paz heißt "Frieden". Aber friedlich kommt der Ort dem Schriftsteller Héctor Abad nicht vor. Manchmal fliegen Bälle vom benachbarten Golfplatz herüber und alle zehn Minuten stören Düsenjets vom angrenzenden Flughafen die Totenruhe.

""Das ist das Grab meines Vaters. Und hier ist das Gedicht von Borges.”"

Héctor Abad, ein 51-jähriger, freundlicher Mann mit lockigen Haaren und krausem Bart, steht am Fuße eines grasbewachsenen Hügels und blickt auf einen Grabstein, in dem ein Gedicht eingemeißelt wurde. Es ist das Grab seines Vaters, der ebenfalls Héctor Abad hieß. Ein engagierter, politischer Arzt, der gegen die Gewalt in der Stadt des Kokains kämpfte und dafür mit seinem Leben bezahlen musste. 1987 wurde er in eine Falle gelockt und auf offener Straße erschossen. Die Mörder waren Auftragskiller. Sie kamen und verschwanden auf einem Motorrad. Wer sie waren, weiß die Familie Abad bis heute nicht. 20 Jahre später schrieb der Sohn ein Buchüber seinen Vater:

""Als ich dieses Buch veröffentlicht hatte und damit auch das Gedicht, das wohl von Borges stammt, behauptete der kolumbianische Dichter Harold Alvaro Tenorio, es sei sein Gedicht und ich hätte mir die Geschichte um das Gedicht von Borges ausgedacht, um das Buch über meinen Vater besser verkaufen zu können. Als mein Vater ermordet wurde, fanden wir in seiner Hosentasche die Liste jener bedrohten Persönlichkeiten der Stadt und eben dieses Gedicht mit den Initialen J.L.B. Für Jorge Luis Borges. Deshalb habe ich damals das Gedicht in den Grabstein eingravieren lassen. Als aber der kolumbianische Dichter vor zwei Jahren behauptete, ich hätte gelogen, zweifelte ich langsam an meiner eigenen Erinnerung. Deshalb bin ich noch mal zum Grab gegangen, um mich zu vergewissern, dass ich diesen Grabstein so angefertigt hatte."

Und das war 1987, während der kolumbianische Dichter behauptete, das Gedicht 1993, also sechs Jahre später, geschrieben zu haben. In der Borges-Gesamtausgabe ist es zwar nicht zu finden, aber Héctor Abad hat mittlerweile durch aufwändige Recherchen herausgefunden, dass das Gedicht, das sein Vater abgeschrieben in die Hosentasche gesteckt hatte, höchstwahrscheinlich aus der Feder von Borges stammt. Jedenfalls konnte er widerlegen, er hätte die Geschichte mit dem Gedicht erfunden, um sein Buch besser verkaufen zu können. Ein Vorwurf, der ihn tief getroffen hat.

"Der Mord an meinem Vater ist mit Schmerz behaftet. Aber die Beerdigung hatte auch eine öffentliche und politische Tragweite. Dieser Hügel hier war voll von Leuten, die schrien und aggressive Handbewegungen machten und der Regierung dieses Mordes beschuldigten. Mitglieder meiner Familie hatten Angst und versteckten sich unter den Bäumen. Auf gewisse Weise nahmen uns diese Leute die Möglichkeit, mit unserer Traurigkeit allein zu sein."

Zu sehr liebten ihn die Bewohner der Stadt Medellín, diesen mutigen, klugen Mann. Er wollte mehr sein als nur ein Arzt, er prangerte die Gewalt an und kämpfte für den Frieden. Der Sohn Héctor Abad fühlte sich immer seinem Vater viel näher als seiner Mutter:

"Ja, ich hatte eine sehr körperliche, geradezu animalische Beziehung zu ihm. Und ich mochte immer ganz besonders seinen Geruch. Er stank nie, vielleicht weil er als Arzt auf Hygiene achten musste. Er gab mir zugleich das Gefühl der Sicherheit und Reinlichkeit. Alles an ihm roch gut - sein Atem, selbst sein Schweiß. Als er aber am Ende tot war und ich seine von Blut durchtränkte Kleidung abholte, musste ich sie verbrennen, weil sie so sehr stank. Das ist ein schrecklicher Aspekt des Todes: Tote Menschen stinken. Deshalb gibt es so viele Blumen auf den Friedhöfen, um mit ihrem Geruch den Geruch der Toten zu übertünchen."

Héctor Abad lässt seinen Blick über den Friedhof streifen, über die vielen Blumen und zahlreichen bunten Vögel. Friedlich ist es hier, wenn da nicht der anliegende Flughafen wäre. Und vergleichsweise friedlich ist es im heutigen Medellín. Héctor Abad blickt auf die verblasste Schrift des Grabsteins seines Vaters, greift zum Buch und liest ein paar Zeilen:

"von der Mehrzahl wird nicht mehr zurückbleiben als Staub und eine Grabinschrift, deren Buchstaben verblassen. Auf lange Sicht gesehen sind wir, wenn wir weise urteilen, angesichts der Kürze der erlebten Erinnerung ‚schon das Vergessen, das wir werden’, wie Borges sagte."

So beginnt das Gedicht im Grabstein, das vermutlich von Jorge Luis Borges stammt, und das durch den Tod von Héctor Abad Senior erst wieder entdeckt wurde.
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