Anna Wiener: "Code kaputt"

Schere zwischen digitaler Utopie und Realität

05:16 Minuten
Zu sehen ist der Titel "Code kaputt" von Anna Wiener.
Sprachlich brillant und äußerst unterhaltsam verknüpft Anna Wiener in "Code kaputt" ihre persönlichen Erfahrungen mit einem Psychogramm der Start-up-Szene in San Francisco. © Droemer Verlag / Deutschlandradio
Von Vera Linß · 09.09.2020
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Fünf Jahre lang hat Anna Wiener für Tech-Unternehmen in San Francisco gearbeitet. Dann warf sie hin. In ihrem autobiografischen Bericht entzaubert sie den Start-up-Hype der Branche.
Mehr Demokratie, mehr Transparenz, mehr Teilhabe? Dass die Gesellschaft durch digitale Medien automatisch besser wird, hat sich längst als Trugschluss erwiesen. Doch auch in die Arbeitswelt bringt die Digitalisierung weit weniger Fortschritt, als die US-Tech-Giganten immer wieder versprechen.
Das hat auch Anna Wiener erfahren: Mit 25 Jahren zieht sie an die Westküste, mit Aussicht auf Karriere in einem millionenschweren Datenanalyse-Start-up. Ihr Ziel: endlich ein Job mit Zukunft. Fünf Jahre später wirft sie das Handtuch.

Pures Lesevergnügen

Der positive Nebeneffekt: Die Geschichte ihres Scheiterns hat Wiener in einem autobiografischen Bericht verarbeitet. Schon in den USA als "herausragend" gefeiert, ist das Buch nun auch auf Deutsch erschienen und bietet Lesevergnügen pur.
Das liegt vor allem an dem scharfsinnigen Blick, mit dem die junge Frau, die inzwischen als Journalistin arbeitet, den Start-up-Hype des Silicon Valley dekonstruiert. Denn obwohl sie Teil des Geschehens war, blieb sie gefühlt stets Außenstehende. Die "Welt der verwertbaren Metriken" war ihr bis zum Schluss fremd.

Absurde Büroästhetik und milchgesichtige Streber

Sprachlich brillant und äußerst unterhaltsam verknüpft Wiener ihre persönlichen Erfahrungen mit einem Psychogramm der Start-up-Szene in San Francisco. Verblüffend, wie reduziert alles wirkt. Da ist die immer gleiche Büroästhetik – "frei liegende Ziegelwände, Snackbar" – wie auch der Größenwahn der CEOs, die mit ihren Produkten "die Menschheit von ihren Fesseln befreien" wollen.
Vor allem aber sind da ihre jungen Kollegen, die "milchgesichtigen Streber". Sie wirken in ihrer Besessenheit wie ferngesteuert und erwecken auf Wiener den Eindruck, "dass wir doch alle nur aus einem fremden Drehbuch ablesen".

Rückwärtsgewandte Fortschrittsbranche

Ebenso wichtig aber: Was sie schreibt, ist auch politisch brisant. Den Sexismus in der Branche belegt sie mit teils skurrilen Beispielen. Um ernst genommen zu werden, muss sie sich einen männlichen Nickname zulegen, erst dann klappt die Kommunikation im Kundenchat.
Als sie in der Firma belästigt wird, wird das durchgewinkt: "So ist er eben." Auch öffentlich, auf Twitter, geht es abschätzig zu, etwa wenn man sich regelmäßig über das Wetter beschwert, weil es "wie eine Frau, die ständig PMS hat" sei.
Zum Thema Überwachung berichtet Wiener, wie die Branche die Enthüllungen von Edward Snowden komplett ignoriert, obwohl die NSA auch bei Tech-Firmen Daten abgegriffen hat. Und sie schildert das Machtstreben von einigen CEOs, die inzwischen auch nach der Städteplanung greifen.

Digitale Utopie trifft auf Realität

Über all das schreibt Wiener lakonisch und mit einer guten Portion Selbstironie, schließlich ist sie lange genug im Zirkus mitgelaufen. Man staunt schlicht mit ihr, wenn sie immer wieder selbst überrascht ist von der Abgehobenheit der Branche, die einerseits wie von einem fremden Planeten wirkt, andererseits aber so viel Einfluss hat. Umso wichtiger ist ihr Bericht, der einmal mehr zeigt, wie weit digitale Utopie und Realität auseinanderklaffen.

Anna Wiener: "Code kaputt. Macht und Dekadenz im Silicon Valley"
Aus dem amerikanischen Englisch von Cornelia Röser
Droemer Verlag, München 2020
320 Seiten, 18 Euro

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