Anna Shternshis über "Yiddish Glory"

Jiddische Lieder aus dem Krieg

Ein Straßenmusiker spielt Klarinette, verdeckt in einem Wachhäuschen im Schweriner Schloss.
Lieder auf Basis von Texten sowjetischer Juden sind auf "Yiddish Glory" versammelt. © dpa picture alliance/ Jens Büttner
Moderation: Mathias Mauersberger · 27.06.2018
Die CD "Yiddish Glory - The Lost Songs of World War 2" basiert auf Gedichten und Liedern sowjetischer Juden. "Wir wollten alle Erfahrungen abbilden, die Juden in der Sowjetunion während des Krieges gemacht haben", sagt Anna Shternshis, die die Texte ausgewählt hat.
Deutschlandfunk Kultur: Ein Stück, in dem ein polnischer Jude, Soldat in der Roten Armee, seinen Stolz ausdrückt, eine Waffe zu tragen, mit der er Deutsche ermordet: Main Pulemyot, meine Maschinen-Pistole. Der Text wurde neu vertont für das Album "Yiddish Glory", das Projekt initiiert und die Texte gefunden und ausgewählt hat Anna Shternshis, Professorin für Jiddisch und Diaspora-Studien an der Universität Toronto. Guten Tag!
Frau Shternshis, die Texte, die den Stücken zugrunde liegen, stammen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, Hunderte dieser Dokumente wurden von einer Gruppe sowjetischer Ethnomusikologen gesammelt, in Kiew archiviert und während des Stalin-Regimes weggeschlossen. Wie haben Sie diesen Fundus überhaupt ausfindig gemacht?
Anna Shternshis: Das Projekt wurde gemacht von einer Institution, die "The Cabinet for Jewish Culture" heißt, die Teil der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften war. Im Jahr 1949 wurde diese Institution von Josef Stalin geschlossen. Die Unterdrückung jüdischer Institutionen in der Sowjetunion begann schon bald nach dem Krieg.
Der Musikologe Moise Beregowski und andere sammelten jüdische Musik von Überlebenden des Holocaust und von Soldaten der Roten Armee, die sie während des Zweiten Weltkriegs dirigiert hatten, und sie wollten diese Materialien veröffentlichen, aber nach der Schließung des Instituts wurden sie des jüdischen Nationalismus beschuldigt. Man benutzte Lieder, die Beregowski gesammelt hatte, als Beweismaterial im Prozess gegen ihn.
Die Dokumente wurden großenteils im Archiv des Geheimdienstes, des NKWD, aufbewahrt. 1953 starb Stalin, Beregowski wurde 1956 aus dem Gefängnis entlassen, die Dokumente blieben aber beim Geheimdienst. In den 70ern kamen sie in die Ukrainische Nationalbibliothek, in den 90ern fanden Bibliothekare diese Kartons und machten mich darauf aufmerksam. So kam ich dazu.

Das Material war in einem schlechten Zustand

Deutschlandfunk Kultur: Im Begleitheft der CD sind Ausschnitte der Original-Dokumente abgebildet: Es handelt sich zum Teil um handgeschriebene Texte, zum Teil auch um mit der Schreibmaschine getippte. Aber auch Noten lassen sich finden. In welchem Zustand befanden sich die Dokumente?
Anna Shternshis: In einem schrecklichen Zustand. Alle Dokumente stammen aus der Zeit vor 1947. Das Papier ist schlecht, es ist nicht digitalisiert, wenn man das Papier nicht vorsichtig behandelt, kann es reißen. Die Schreibmaschinenschrift oder auch die Tinte sind verblasst, die Dokumente müssen so schnell wie möglich digitalisiert werden.
Aber wenn man bedenkt, dass sie all die Jahre einfach nur in diesen Schachteln lagen, ist es erstaunlich, dass sie überhaupt überlebt haben. Der Dank dafür gilt den Bibliothekaren der Ukrainischen Nationalbibliothek, die für klimatische Verhältnisse sorgten, die verhinderten, dass die Dokumente sich einfach auflösten.
Deutschlandfunk Kultur: Sie haben sich dafür eingesetzt, dass die Texte vertont und aufgenommen werden, zusammen mit Psoy Korolenko und Sergei Erdenko. Wie wurden die Texte denn nun musikalisch umgesetzt, vor allem jene, zu denen es keinerlei Noten, keine musikalischen Vorlagen gab?
Anna Shternshis: Es war ein Dilemma. Um ehrlich zu sein, ein solches Projekt hatte bei mir nicht die höchste Priorität. Ich bin Historikerin an der Universität von Toronto und ich wollte ein Buch schreiben. Aber dann bereitete ich eine Präsentation bei einer Konferenz vor, und ich dachte: Wie langweilig, die Dokumente nur zu zeigen. Ich bat Pseuko Ralenko, einen wunderbaren russisch-amerikanischen Musiker, der sowohl jüdische als auch russische und sowjetische Musik spielt, um Hilfe. Ich sagte ihm: Da gibt es diese wunderbaren Lieder, für Stalin, gegen Hitler, sogar lustige Lieder. Sehr ungewöhnlich, aber das Problem ist, es gibt dazu keine Melodien. Er sagte, das ist keine große Sache, ich schreibe Dir die Melodien. Es wurde dann doch eine große Sache.
Passend zu den Texten komponierte er Melodien, die an die Musik in der Sowjetunion der 40er-Jahre erinnern. Ich muss das betonen: die meisten Melodien in diesem Projekt kommen nicht aus der jüdischen Musik. Schon Beregowski schrieb, dass die meisten Melodien sich sowjetischer Musik verdankten und nicht etwa jüdischer Musik.
Es entstand also eine Musik zu jiddischen Texten, aber kein Klezmer. Pseu und ich führten das Programm ein paar Mal auf, und dann sagte Dan Rosenberg zu uns: Das ist eine tolle Story. Aber Du musst das richtig machen. Und damit meinte er: mehr Musiker und richtige Arrangements.
Wir luden Sergej Radenko ein, einen der führenden russischer Geiger, der Roma-Musik macht. Für Sergej war es wirklich interessant, weil er vorher nie ernsthaft sich mit jüdischer Musik auseinandergesetzt hatte. Und er sagte: "So viele Roma wurden während des Kriegs getötet. Wir haben keine Roma Glory". Diese jüdische Musik ermöglichte ihm ironischerweise "the plight of Roma". Dann kamen noch andere Musiker dazu, und das Resultat ist diese CD.

Poesie spielte keine Rolle

Deutschlandfunk Kultur: Lassen Sie uns auf den Inhalt der Texte zu sprechen kommen, die ja aus ganz unterschiedlichen Quellen stammen, sich aber dennoch allesamt mit der Realität des Zweiten Weltkrieges auseinandersetzen. Da gibt es zum einen überraschend kämpferische Stücke, die sich gegen den Feind, die faschistischen Deutschen richten, es gibt ein Stück über Kasachstan, das Land, in dem viele Juden nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue Heimat fanden. Aber auch ein ergreifendes Stück aus der Feder eines Zehnjährigen, der um seine verstorbene Mutter trauert. Nach welchen Kriterien haben Sie die 18 Texte ausgewählt?
Anna Shternshis: Das war der interessante und herausforderndste Teil der Arbeit. Wir wollten alle Erfahrungen abbilden, die Juden in der Sowjetunion während des Krieges gemacht haben. Einige blieben im von Deutschen oder Armeniern besetzten Gebieten während des Kriegs, und die meisten von ihnen wurden getötet. Es gibt also einige Lieder aus Ghettos oder Internierungslagern in Transnistrien. Dazu gehört ein Lied mit dem Titel "Tulcin" oder das Lied des 10-jährigen Jungen, das Sie erwähnt haben.
Sie erzählen, wie es ist, unter der Besatzung zu leben oder vielmehr: zu sterben. Eine halbe Million sowjetischer Juden dienten in der Roten Armee, und wir haben viele Lieder von Soldaten der Roten Armee auf Jiddisch. Außerdem Lieder derer, die auf sie zu Hause warteten und sie vermissten.
Und dann gibt es noch 1 Million 400.000 sowjetische Juden und 250.000 polnische Juden, die den Krieg in Zentralasien überlebten. Es gibt viele Lieder von den Erfahrungen dieser Menschen - und dieser Bereich der jüdischen und europäischen Zeitgeschichte ist ziemlich schlecht erforscht. Wir wollten den Leuten eine Stimme geben, die sonst kaum gehört werden, wenn es um Geschichte geht: Frauen, Kindern, ungebildeten Menschen.
Ein Kriterium hat keine Rolle gespielt: der ästhetische Wert. Wir haben nicht Lieder ausgewählt, die besonders schön oder besonders poetisch sind. Es handelt sich um Volkspoesie, die Autoren waren Amateure. Es ist also ein künstlerischer Kommentar zur Geschichte.
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