Anna online

Von Ulrike Greim |
Geschätzte 50.000 Bände wurden beim Brand der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar 2004 unwiederbringlich zerstört. Damit dies nicht wieder passiert, werden von den noch verfügbaren Büchern digitale Kopien angefertigt. Der Internetzugang zu den digitalen Ausgaben des historischen Buchbestandes wurde nun geöffnet.
"Habe nun, ach! Philosophie, Juristerei und Medizin, Und leider auch Theologie! Durchaus studiert, mit heißem Bemühn."

sagt Faust. Nachzulesen in der Tragödie erster Teil.

"Da steh ich nun, ich armer Tor! Und bin so klug als wie zuvor."

Goethes Flagschiff kreuzt seit Veröffentlichung durch alle Weltmeere und Sprachen, es gibt "Faust" sogar in Armenisch, Urdu und Esperanto. Als Puppenspiel oder als Musikstück. 14.000 Bände "Faust" sind allein in Weimar gesammelt worden, in der ehrwürdigen Herzogin Anna Amalia Bibliothek beziehungsweise jetzt in deren modernen Neubau.

Die ersten und bedeutendsten 75 von ihnen stehen ab heute im weltweiten Datennetz. Bisher müssen die Forscher aus aller Welt nach Weimar kommen, um sie hier zu lesen. Unten in den Katakomben der Klassik in den neu gebauten Lesesälen sitzen sie und stöbern. Aber die Bibliotheksgemeinde wartet auf den Aufbruch ins digitale Zeitalter. Das weiß auch der Direktor der Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Michael Knoche:

"Das Bibliothekswesen wächst wirklich über das Netz zusammen. Wir haben wirklich sehr viele intensive Benutzer unserer Bestände auch in Übersee und irgendwo auf der Welt, und kommunizieren mit diesen Nutzern nur per Mail."

Im Internet konnten sie bisher nur sehen, welche Bestände sie in Weimar lesen können. Der Schritt zur Online-Nutzung ist überfällig, sagt der Bibliotheksdirektor.

"Also die deutschen Bibliotheken hinken insgesamt hinter der Entwicklung her, da sind uns die USA, Großbritannien und manche anderen westeuropäischen Länder weit voraus."

Hier in Weimar ist mit Unterstützung der Spezialspeicher-Firma EMC der Schritt ins Netz gelungen. Allein hätte es die Bibliothek mit ihren Mitteln absehbar nicht geschafft.

In der Direktion der Bibliothek, Abteilung Bestandserhaltung. Hier arbeitet der Fototechniker Helmut Schade. Im Regal: dicke Bücher mit gelblich-braunen Pergamentrücken, daneben Stapel historischer Blätter, sorgsam beschriftet. Seite um Seite legt er auf dem Spezialtisch, tachiert und arretiert, richtet die Blätter unter einer fest installierten Scanner-Kamera ein, die mit dem Rechner vernetzt ist.

"Wir arbeiten hier mit zwei mal 3000 Megapixel."

Jede Aufnahme wird sofort auf dem Bildschirm dargestellt - man erkennt jede Pore, jede Faser des Papiers. Hier: kunstvolle Lettern.

Knoche und Schade: "Das sind Schulgesetze." "Ja, aus Rudolstadt." "Aus dem Jahre April 1664."

… aus der Sammlung VD 17 mit Drucken aus dem 17. Jahrhundert. Bei den wertvolleren Bänden werden pro Seite 16 Aufnahmen gemacht und zusammengerechnet.

"Wenn man da mit acht Bit arbeitet, kommen pro Bild etwa 70 Megabyte zustande, bei 16 Bit wären es dann schon 140 Megabyte Dateigrößen. Wenn man bedenkt, dass auf eine CD nur 700 gehen, dann wären es vier oder fünf Bilder auf einer CD. Das ist natürlich Wahnsinn, da braucht man riesengroße Speicherkapazitäten."

Im Bibliothekshaus weiter oben, etwas ab vom Schuss, ist ein Sicherheitsraum. Hier steht ein mannshoher Schrank: Das Speichersystem Centera mit einer Kapazität von 28 Terabyte.

"Wir haben uns hier zwei Systeme installieren lassen, eines steht im Schloss, das andere hier. Die werden gespiegelt, so dass im Schadensfall - Wassereinbruch zum Beispiel, das kann ganz schnell passieren - die Daten auf keinen Fall verloren gehen."

Hier liegt Weltkultur in Jpeg-Datein auf großen grauschwarzen Speicherplatten. Kleine grüne Lämpchen blinken, zeigen die Aktivität. Da wird draufgespeichert oder zugegriffen - aus Michigan oder Tokyo, aus Minsk oder San Diego. "Faust" auf Reisen im world wide web.

Faust-Sprecher: "Dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält."

Ein Dokumentenmanagementsystem verwaltet die bibliographischen Details. Jede Seite - gerade bei den prachtvollen Ausgaben - kann bis in Feinheiten hinein betrachtet werden. Und ausgedruckt. Und in China kopiert, und nach Deutschland verkauft werden? Nein, sagt der Techniker. Das geht nicht wirklich gut.

"Die Digitalisate werden auch so abgelegt, dass im Prinzip ein Wasserzeichen in dem Bild drin ist, so dass jegliche Reproduktion nachvollziehbar ist. Das heißt: Wenn die Reproduktion gemacht wird, ohne unsere Genehmigung, dann ist das eine Urheberrechtsverletzung, und demzufolge können wir die Einrichtung belangen."

Die Digitalisierung der ersten 160 Bände ist für die Anna Amalia Bibliothek ein großer Schritt zur Sicherung der eigenen Bestände. Alle deutschen Bibliotheken werden vielleicht 50 Jahre brauchen, bis sie digital verfügbar sind, schätzt der Weimarer Bibliothekschef Knoche. Dass ihm die leibhaftigen Kunden ausgehen, glaubt er nicht.

"Die Aura der Bücher wird natürlich nicht mit digitalisiert."

Das heilige Erschauern, das einen Forscher überkommt, wenn er die Originale in Händen halten darf, die schon Lessing las, das bleibt. In Weimar.