Anna Bikont: „Wir aus Jedwabne“

Polnische Erinnerungskämpfe

05:58 Minuten
Anna Bikont Wir aus Jedwabne - Polen und Juden während der Shoah
Eine skeptische Beobachterin berichtet: "Wir aus Jedwabne" von Anna Bikont zeichnet die Debatte um ein Massaker 1941 nach. © Suhrkamp Verlag / Jüdischer Verlag / Deutschlandradio Kultur
Von Fabian Wolff · 06.07.2020
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Das von Polen an Juden 1941 begangene Massaker von Jedwabne hat in den vergangene 20 Jahren zu scharfen Debatten über polnische Mitschuld geführt. Die Journalistin Anna Bikont hat dem Verbrechen und seiner Verdrängung ein Buch gewidmet.
In jedem größeren deutschen Buchladen mit Sachbuchabteilung wird es wohl ein ganzes Regal mit Literatur zum Nationalsozialismus und zum Holocaust geben. Das bedeutet keineswegs, dass jedes wichtige Werk auch in Deutschland erscheint. Im Gegenteil: Einige der originellsten und fundiertesten Bücher zur Shoah erscheinen auf Deutsch gar nicht oder nur mit großer Verzögerung.
So hat es ganze 16 Jahre gedauert, bis Anna Bikonts erzählende Studie "Wir aus Jedwabne" auch auf Deutsch erscheint. Zuvor hatte es auf Französisch 2011 und auf Englisch 2015 bereits wichtige Preise gewonnen.

Debatte über polnischen Antisemitismus

Auch die Studie, an die Bikont anschließt, ist auf Deutsch vergriffen: In "Nachbarn" rekonstruierte der polnisch-amerikanische Historiker Jan T. Gross im Jahr 2000 die Ermordung der jüdischen Bevölkerung im kleinen Ort Jedwabne am 10. Juli 1941. Damals, so Gross, wurden 1600 Juden in einer Scheune verbrannt, und zwar von Polen, nur unter Aufsicht von Deutschen.
Das Buch löste einen Skandal aus, weil es das polnische Selbstbild als reine Opfernation angriff und eine Diskussion über polnischen Antisemitismus erzwang. Der Beginn nicht einfach nur eines Historikerstreits, sondern einer polnischen Dreyfus-Affäre, schreibt Adam Michnik, Bikonts Vorgesetzter bei der liberalen Zeitung "Gazeta Wyborcza".

Relativierung der Schuld

In Michniks Büro beginnt auch Bikonts Bericht. Ein polnischer (sprich: nichtjüdischer) Augenzeuge schildert Michnik und Bikont, wie es damals wirklich gewesen sein soll: Kein einziger Pole hätte sich an dem Pogrom beteiligt. Es seien auch keine 1600 Opfer gewesen: "'Wie viele waren es denn Ihrer Meinung nach', schalte ich mich ein. 'Tausend, mehr nicht', antwortet Tadeusz. Ich schaue zu Adam hinüber und sehe, dass er erbleicht."
In solchen kleinen, furchtbaren Augenblicken entwickelt Bikont die Motive und Themen ihres Buches: Die grausame apathisch-antisemitische Leugnung von polnischer Schuld und der Schmerz der wenigen noch im Land lebenden Juden, die ihre traumatisierte polnisch-jüdische Identität bedroht sehen – vom scharfen Tonfall des in die USA emigrierten Gross ebenso wie vom antisemitischen Backlash. Auch Bikont hat ihre polnisch-jüdische Biografie, die, für den ehemaligen Ostblock nicht ungewöhnlich, eine des langjährigen Verschweigens und der zufälligen Selbstentdeckung ist, und die inzwischen sogar eine religiöse Dimension hat.

Skeptische Beobachterin

Bikont hat das Gefühl, dass in der Geschichte des Massakers von Jedwabne noch mehr steckt. Sie beginnt mit eigenen Recherchen, dargelegt in historischen Kapiteln. Ihre Begegnungen mit Augenzeugen, ihre Archivfunde und ihre Reisen nach Israel und in die USA erzählt Bikont auch in tagebuchartigen Arbeitsnotizen, die oft wunderbar pointierte Momente enthalten:
"Die in Wien lebende Ewa Lipska hatte mich gefragt, ob man nach dem Buch von Gross noch etwas über Jedwabne schreiben könne. 'Ein merkwürdiger Satz aus dem Mund einer Dichterin', hatte ich geantwortet und ihr meine bisherigen Recherchen beschrieben."
Als Erzählerin beobachtet sie mit Sorge aufbrechende Ressentiments, aber bemüht sich um Fairness und will auch immer die anderen, die besseren Polen zeigen. Die Konfliktlinien verlaufen nicht entlang eindeutiger Zuordnungen – liberale katholische Stimmen bekennen sich klar zur historischen Verantwortung, die Postkommunisten als einzige Partei ebenfalls. Der ehemalige Präsident Lech Wałęsa sagt hingegen in einem Radiointerview, dass es "keine große Affäre" sei, dass "jemand ein Buch geschrieben und ein paar Zloty verdient hat" und fordert stattdessen eine Entschuldigung von den Juden für den stalinistischen Terror.

Bittere politischer Kommentar

Neben antisemitischen Angriffen auf Gross gibt es auch legitime Kritik an seiner Methodologie. Bikont hat im Vergleich vor allem die Vorgeschichte des Massakers im Blick und die verschiedenen Spielarten von polnischem Antisemitismus zwischen katholischer Doktrin, Volksglauben und glühendem Antikommunismus. Auf Erklärungen und Deutungen verzichtet sie meistens. "Wir aus Jedwabne" ist ein Buch der Fragen, nicht der Antworten - und ohne den eindeutigen erinnerungspolitischen Impuls von Gross.
Es ist der späten Veröffentlichung auf Deutsch geschuldet, dass es sich inzwischen doch wie ein bitterer politischer Kommentar liest. Die Debatte um polnische Mitschuld ist inzwischen beendet - und zwar per staatlichem Dekret.
"Der Antisemitismus hat inzwischen den Mainstream erreicht", stellt Bikont in einem aktuellen Nachwort fest: "Die Aufdeckung des Verbrechens von Jedwabne war eine Revolution. Heute ist die Zeit der Konterrevolution gekommen." Ihr Buch ist also inzwischen selbst historisch. Wie so viele gute Revolutionstagebücher ist es von einer skeptischen Beobachterin geschrieben.

Anna Bikont: Wir aus Jedwabne. Polen und Juden während der Shoah
Aus dem Polnischen von Sven Sellmer
Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2020
699 Seiten, 34 Euro

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