Ankämpfen gegen Einsamkeit und Tod

01.09.2011
Die hochbetagte Mathea Martinsen fristet ihr Dasein in einem Vorort Oslos. Seit dem Tod ihres Mannes hat sie keinen Kontakt mehr zur Außenwelt und all ihre Versuche, in die normale Welt zurückzukehren, scheitern. Kjersti Skomsvolds Debüt ist schnörkellos und zugleich voller Skurrilitäten und gewitzter Einfälle.
Eine hochbetagte Frau fristet ihr Dasein in einem Vorort Oslos. Nennenswerte Kontakte zur Außenwelt hat sie keine, abgesehen von den Begegnungen mit einem Sonderling, der sie bei jedem Treffen nach der Uhrzeit fragt. Krampfhaft versucht sie, den "kleinen Rest", der ihr "noch vom Leben" bleibt, auf irgendeine Weise zu füllen. Die 1980 geborene Norwegerin Kjersti Skomsvold hat sich eine ungewöhnliche Protagonistin für ihren Erstlingsroman ausgesucht, obschon es in der europäischen Gegenwartsliteratur keinen Mangel an alten Menschen gibt, die an Alzheimer oder anderen Gebrechen leiden.

Mathea Martinsen, so heißt Skomvolds einsame Heldin, betrauert den Verlust ihres einzigen Gefährten, ihres Ehemanns Epsilon. Dieser – ausgestattet mit einer großen Neigung, sich in alte norwegische Statistikjahrbücher zu vertiefen – starb am ersten Tag seines Ruhestands und besetzt seitdem die Gedankenwelt seiner Frau. Mathea, die als Ich-Erzählerin des Romans fungiert, schwankt unentwegt zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Präteritum und Präsens, und manchmal scheint es, als verbrächte Epsilon noch immer die Tage an der Seite Matheas. Und die Nächte in jenem Etagenbett, das beide dafür verantwortlich machen, ohne Nachwuchs geblieben zu sein.

Obwohl Mathea nicht dazu neigt, ihre Ehe mit Epsilon zu verklären, fehlt ihr jeder Ansporn, sich noch einmal ins "richtige" Leben zu stürzen. Wenn sie einmal davon ablässt, Ohrenwärmer für Epsilon zu stricken, und sich auf die Straße wagt, weiß sie mit ihren Mitmenschen nichts anzufangen. Die Deckel der Marmeladengläser, die sie unentwegt kauft, vermag sie nicht zu öffnen; ein Besuch in einer Seniorenresidenz endet im Desaster, und zum einzigen Fixpunkt ihrer Abende wird Nachrichtensprecher Einar Lunde, der mit immergleicher Miene Schreckensmeldungen verkündet.

Kjersti Skomsvolds Debüt ist ein Text voller Skurrilitäten und gewitzter Einfälle. Mit famos sicherem Gespür für Dezenz und einem Stil, der auf Andeutungen vertraut, bewahrt die Autorin die Würde ihrer schon als Kind an die Seite gedrängten Hauptfigur. Alles, was Mathea erlebt, erinnert sie an den Tod; darin besteht ihre Krankheit. So schnörkellos Skomsvold dieses Memento mori schildert, so unangestrengt setzt sie komische Akzente, die dem traurigen Schicksal dieser Frau eine schöne Leichtigkeit geben.

Da sich niemand ihrer annimmt, will Mathea bei der Telefonauskunft unter die Top-Ten der gefragtesten Norweger gelangen und fragt mit verstellter Stimme mehrfach nach ihrer eigenen Nummer – eine Nummer, die ansonsten keiner verlangt. Und schließlich will sie durch eine "Konfrontationstherapie" lernen, dem Tod gelassen entgegenzusehen. Permanente Friedhofsbesuche oder die Anstrengung, Christin zu werden, sollen helfen, den Tod nicht mehr zu fürchten. Der gerne in Reimen sprechenden, harmoniesüchtigen Mathea ist damit nicht gedient, und am Ende dieses schmalen, höchst eindrucksvollen Romans sehen wir ihr zu, wie sie in den Lutwann-See steigt – auf der Suche nach dem "Weiten".

Besprochen von: Rainer Moritz

Kjersti A. Skomsvold: Je schneller ich gehe, desto kleiner bin ich
Roman. Aus dem Norwegischen von Ursel Allenstein
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2011
144 Seiten, 18 Euro