Anis Amri und das Dilemma der Prognose

Zu viel Wissen hilft uns auch nicht weiter

Die Arbeit "Oedipus" des österreichischen Malers und Aktionskünstlers Hermann Nitsch
Ödipus wurde vorausgesagt, dass er seinen Vater erschlagen und seine Mutter heiraten würde. Die Geschichte zeige das Dilemma der Prognose, sagt David Lauer. © dpa picture alliance / Sven Hoppe
Von David Lauer |
Prognosen sind schwierig: Oft erkennt man ihre Bedeutung erst hinterher. Und wer eine Gefahr in der Zukunft sieht, ist allein schon deswegen aufgefordert, sie abzuwenden, erklärt David Lauer. Und macht dadurch erst recht vieles falsch.
Prognosen sind eine heikle Angelegenheit. Und zwar nicht nur, weil sie häufig so unsicher sind, sondern in erster Linie deshalb, weil keine andere Wissensform so eng mit der tragischen Dimension des Handelns verwoben ist. Hätte man beispielsweise wissen können - oder müssen? - dass Anis Amri, der Attentäter vom Breitscheidplatz, einen Selbstmordanschlag plante? Nein, sagen unisono der zuständige Landes- und der Bundesinnenminister. Doch, sagt die Opposition im nordrhein-westfälischen Untersuchungsausschuss und verweist auf ein Schreiben des Landeskriminalamtes vom März letzten Jahres, in dem ein Anschlag Amris prognostiziert wurde.
Schon hier zeigt sich das tragische Potenzial des prognostischen Wissens, welches darin liegt, dass man sich oft erst darüber klar wird, dass man es besaß, wenn es schon zu spät ist. Figuren wie die trojanische Seherin Kassandra, deren Warnungen nie jemand Glauben schenkt, verkörpern diese Einsicht.

Herders Tipp: Nie zu viel wissen wollen

Die tragische Verstrickung der Prognose reicht jedoch tiefer. In seinem Aufsatz "Vom Wissen und Nichtwissen der Zukunft" von 1797 gibt Johann Gottfried Herder den entscheidenden Hinweis. Er betont dort die Notwendigkeit, sich um das Wissen des Kommenden zu bemühen, ergänzt jedoch sofort, es sei wichtig, eine "weise Beschränkung" zu beachten, die wir in den "Lehren der Alten" finden: "nie zu viel, nie zu früh, nie etwas wissen zu wollen, was für uns nicht gehöret".
Warum aber dies? Warum sollten wir nicht alles wissen wollen, was wir wissen zu können hoffen dürfen? Weil, wer vom Baum der Erkenntnis isst, sich augenblicklich der Verpflichtung ausgesetzt findet, eine Entscheidung zu fällen: eine Entscheidung, was nun zu tun ist - beispielsweise um ein prognostiziertes Unheil doch noch präventiv abzuwenden. Vor dieser Handlungsverpflichtung gibt es kein Entrinnen. Denn im Lichte des Wissens um das, was geschehen wird, wird nun alles, auch das Nichtstun, zu einer Entscheidung, für die man zur Rechenschaft gezogen werden wird - und alles, was geschehen wird, wird nicht mehr blindes Schicksal sein, sondern etwas, das wir selbst mit herbeigeführt haben. "Wir tragen die Nemesis in uns", schreibt Herder.

Unser Wissen von der Zukunft ist zu bruchstückhaft

Das aber ist ein Problem. Denn zugleich ist unser Wissen von der Zukunft häufig so bruchstückhaft, dass es uns gar nicht dabei hilft, sinnvolle Entscheidungen zu treffen. Wir wissen also gerade genug, um uns in den Raum der Verantwortlichkeit gezerrt zu sehen, aber lange nicht genug, um uns in diesem Raum auch zu orientieren. Genau hier liegt das Dilemma der Prognose. Gerade das Wissen um die Zukunft kann unser praktisches Handeln vollkommen lähmen oder im Extremfall dazu führen, unabsichtlich genau das Falsche zu tun. Ödipus wusste vom delphischen Orakel, dass er den Vater erschlagen und die Mutter ehelichen werde. Genützt hat es ihm nichts, denn das Wie, Wo und Warum hatte das Orakel ihm nicht verraten. Und so führten gerade seine Versuche, das schreckliche Geschehen zu verhindern, dazu, dass es sich vollzog.
Diese Zweischneidigkeit ist dem prognostischen Wissen eingeschrieben. So erklärt sich Herders Warnung, von der Zukunft zu viel wissen zu wollen. So erklärt sich auch der Wunsch, lieber die Folgen eines bewusst gewählten Nichtwissens zu tragen, als mit der Last des Handlungszwangs zu leben, der aus der Prognose erwächst. Wir kennen diesen Wunsch aus vielen Zusammenhängen, etwa der Präimplantationsdiagnostik. Für Sicherheitsbehörden besteht diese Option allerdings nicht. Wir müssen die Bürde des Ödipus tragen. Wir sind ihr nicht entkommen, als wir die Orakel durch Geheimdienste ersetzten.
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