Kommentar zur Telefonierangst
Kein Anschluss unter dieser Nummer: Immer mehr junge Menschen fühlen sich von Telefonaten gestresst © picture alliance / Zoonar / Elada Vasilyeva
Sehnsucht nach Nähe ohne Risiko
04:37 Minuten

Viele junge Menschen haben Angst vorm Telefonieren. Das ergab zuletzt erneut eine Umfrage. Ein Effekt der neuen Kommunikationsmittel. Dahinter steckt vermutlich eine paradoxe Sehnsucht nach Nähe ohne Risiko.
Kommunikationsmedien sind mehr als neutrale Kanäle zur Verschickung von Botschaften. Ein Medium formatiert unser Verhältnis zu Raum und Zeit in einer je eigenen Weise. Je schneller wir beispielsweise Nachrichten über eine räumliche Distanz hinweg austauschen können, desto unbedeutender wird diese Distanz für das gemeinsame Handeln und Denken. Die zeitliche Beschleunigung medialer Interaktion bringt die Menschen im räumlichen Sinne näher zusammen.
Der Philosoph Paul Virilio sprach in diesem Sinne von der „Verzeitlichung des Raumes“. Wo es möglich geworden ist, in Echtzeit und in unbegrenzter Datendichte zwischen Orten zu kommunizieren, die überall auf der Welt verstreut liegen, dort leben wir in dem globalen Dorf, von dem der Medientheoretiker Marshall McLuhan bereits 1964 sprach, als an das Internet noch kein Mensch dachte.
Synchrone Kommunikation: ungewollte Nähe?
Ein Medium strukturiert aber nicht nur unser Verhältnis zu Raum und Zeit. Es formatiert auch unsere Verhältnisse zueinander im Hinblick auf Nähe und Distanz. Manche Medien zwingen die Kommunizierenden dazu, sich zu einer festgelegten Zeit im selben realen oder virtuellen Raum zu begegnen. Man spricht von synchroner Kommunikation. So funktionieren das Gespräch unter Anwesenden, der Videocall und das Telefonat. Die Kommunizierenden sind in dieser Situation mehr oder weniger ungeschützter Nähe voreinander exponiert.
Unter Umständen wird deutlich mehr Information übertragen, als ihnen lieb ist; beim Telefonat etwa durch den Klang oder das Zittern der Stimme. Es ist für die miteinander Sprechenden verhältnismäßig schwierig, voreinander zu verbergen, wenn sie gereizt oder verärgert sind. Zugleich stehen sie unter dem Druck, sofort aufeinander reagieren zu müssen.
Kontrollfunktion durch Asynchronität
Die meisten neuen Medien hingegen, wie WhatsApp, Insta, TikTok oder X, funktionieren asynchron. Zwar werden auch hier die Nachrichten in Echtzeit übertragen. Doch man kann selbst entscheiden, wie schnell man auf sie reagiert. Es ist möglich, abzuwarten und seine spontanen Reaktionen zu kontrollieren, bevor man antwortet.
Die selbstbestimmte zeitliche Taktung der Kommunikation gewährt größere Kontrolle über die eigene Selbstinszenierung, darüber, was man preisgibt. So besteht die Möglichkeit, größere Distanz zum Gegenüber zu wahren – nicht zuletzt auch, weil man sich nicht exklusiv mit ihm oder ihr befassen muss, sondern zeitgleich noch viele andere Dinge tun und sogar Parallelkonversationen führen kann.
Telefonieren als anachronistischer Stressfaktor
Von der synchronen Kommunikation hingegen geht eine gewisse Übergriffigkeit aus. Der Telefonanruf zwingt mich in ein Zeitregime, in dem ich jetzt reagieren muss. Er verlangt meine ungeteilte Aufmerksamkeit und lässt wenige Möglichkeiten zur Reflexion oder zur Distanzwahrung. Für eine Generation, deren bevorzugte Kommunikationsmedien asynchron sind, ist das zu einem anachronistischen Stressfaktor geworden.
Dass Smartphones, die nur dem Namen nach noch Telefone sind, tatsächlich die Möglichkeit bieten, eine Gesprächspartnerin oder ein Gesprächspartner ohne Vorwarnung einfach anzurufen, ist das aus der Zeit gefallene Relikt eines früheren Medienregimes. Man fühlt sich peinlich berührt von dieser Möglichkeit und ergreift sie nur, wenn es wirklich gar nicht anders geht.
Paradoxe Sehnsucht: Nähe ohne Risiko
Die Angst vor der invasiven Gewalt des Telefonanrufs ist insofern der Ausdruck einer leicht paradoxalen Sehnsucht nach einer Form der Kommunikation, die alles auf einmal ermöglichen soll: ständige Erreichbarkeit und Verbundenheit bei gleichzeitiger größtmöglicher Distanz; Nähe und Intimität ohne das Risiko der Verletzbarkeit.
Diese Sehnsucht ist verständlich. Was jedoch mit dem Risiko, im buchstäblichen Sinne angerufen zu werden, gleichermaßen verschwindet, ist die Chance auf den unwiederholbaren und beglückenden Moment einer Kommunikation, die gegen alle Wahrscheinlichkeit und ohne Sicherheitsnetz in der freiwillig zugelassenen, ungeschützten Begegnung gelingt.