"Angst können nur Undemokraten haben vor diesem Film"

Frank Rieger im Gespräch mit Susanne Führer |
Der frühere Finanzcontroller des zerschlagenen russischen Erdölkonzerns Yukos, Frank Rieger, hat den Film "Khodorkovsky" nach dessen Premiere auf der Berlinale als ausgewogene "Dokumentarleistung" ohne Parteinahme gewürdigt.
Susanne Führer: Fünf Jahre lang hat der Filmemacher Cyril Tuschi an seinem Dokumentarfilm über den ehemaligen Yukos-Chef Michail Chodorkowski gearbeitet. Fast wäre die ganze Arbeit umsonst gewesen, denn zwei Mal wurde ihm der nahezu fertige Film gestohlen. Aber die Leitung der Berlinale besaß zum Glück eine Kopie, und so hatte dieser Film, "Chodorkowski" heißt er, gestern Weltpremiere bei den Berliner Filmfestspielen. Einer, der diesen Film mit großer Spannung erwartet hat, ist Frank Rieger, der ehemalige Finanzvorstand des Yukos-Konzerns. Guten Tag, Herr Rieger!

Frank Rieger: Einen schönen guten Tag!

Führer: Sie gehören zu den Auserwählten, zu den Wenigen, die den Film gestern sehen konnten. Jetzt sind Sie in einer für Sie sicher etwas ungewohnten Rolle, Herr Rieger, nämlich in der des Filmkritikers. Sagen Sie doch: Wie hat Ihnen der Film gefallen?

Rieger: Sie haben völlig recht damit, dass es eine ungewohnte Rolle für mich ist. Ich bin kein Filmkritiker. Ich kann Ihnen gern meine persönlichen Eindrücke des Filmes wiedergeben. Mit großer Erwartung, da man oder ich selbst im Yukos-Konzern viele Jahre aktiv tätig war, hat es mich schon interessiert, wie ein Künstler wie Herr Tuschi an die Persönlichkeit Herrn Chodorkowski herangeht, wie er seinen bisherigen Lebensweg, seinen Aufstieg zum Yukos-Imperium und seine Verhaftung, seine Zeit im Gefängnis darstellt, und ich muss Ihnen sagen: Ich bin angenehm überrascht gewesen von der Ausgewogenheit des Filmes, von der künstlerischen Feinfühligkeit, mit der Herr Tuschi alle Beteiligten skizziert hat, eine sehr ausgewogene, keine einseitige, keine parteinehmende, wohl aber gewisse Sympathien zum Ausdruck bringende filmische Dokumentarleistung, die mir sehr gut gefallen hat. Und aufgrund des Abschlussapplauses nach der Vorstellung kann ich entnehmen, dass auch das anwesende Publikum beeindruckt war von dieser Leistung.

Führer: Chodorkowski selbst tritt ja in diesem Film auf, habe ich gelesen, das soll das einzige Filminterview in sieben Jahren sein. Wie wirkte er da auf Sie?

Rieger: Er wirkte auch mich erstaunlicherweise gefasst, lächelnd, so wie ich ihn aus dem Unternehmen bis zum Jahr 2003 kenne, ein in sich gefestigter, gefasster, sehr klar strukturierend denkender Mensch, der sich und seine Situation völlig richtig und nüchtern einschätzt, ein Mann, der es eigentlich nicht verdient hat, hinter Gittern zu sitzen.

Führer: Hat es Ihnen einen Stich gegeben, das zu sehen? Sie haben ja große Sympathien für Chodorkowski.

Rieger: Es hat mir von Anfang an einen Stich gegeben, natürlich, bereits seine Verhaftung im Jahr 2003, und leider hat man sich an die Bilder aus dem Moskauer Gefängnis, wo Herr Lebedew und Herr Chodorkowksi in diesem Aquarium sich permanent hinter Schloss und Riegel aufhalten müssen und durch eine dicke Glasscheibe zum Richter, zu den Staatsanwälten, zu ihren Verteidigern sprechen müssen, gewöhnt. Die Umstände sind widerlich, der Prozess selbst, den haben wir hier in Deutschland mit verfolgt, wurde von vielen, so auch von mir, als erfunden und den Tatsachen nicht entsprechender Prozess beurteilt.

Führer: Sie haben gesagt, Herr Rieger, Sie sind beeindruckt von dem Film. Cyril Tuschi hat ja sehr viel dafür gearbeitet, fünf Jahre lang, 70 Leute interviewt, Freunde, Weggefährten Chodorkowskis wie auch Gegner. Gelingt es ihm denn in diesem Film, diese ja nun doch auch sehr komplizierte Geschichte nachvollziehbarer zu machen?

Rieger: Er hat in seinem Film, was besonders gut gefallen hat, ich glaube ein Stück russische Seele, ein Stück Russland eingefangen, auch mit der bewussten Bildwahl, mit der unterlegten Musik und auch mit dem, wie die Beteiligten in diesem Film zu Worte kommen, sei es seine Mutter, sei es ein Oppositionspolitiker, seien es andere Weggefährten, die nicht unbedingt Chodorkowskis Sympathisanten waren – eine ausgewogene Balance. Und die Statements, die wir in diesem Film, in diesen Ausschnitten über das Leben und Wirken von Herrn Chodorkowski gehört haben, haben bei mir den Eindruck vermittelt, dass der Weg zu einem der reichsten Männer Russlands ein systembedingter Weg war, dass er sich und seine Firma, seine Firmen formte durch die Protektion von dem System, in dem er lebte, und letztendlich zum Opfer des von ihm unterstützten Systems, des Systems wurde, welches er mit geformt hat und welches ihn geformt hat. Und ich glaube, das ist eine ganz wichtige Aussage in diesem Film: Er war ein Produkt des Systems und war dann störend im System, und das System entledigte sich seiner ungeliebten Produkte.

Führer: Haben Sie also eine neue Sichtweise auf Chodorkowski bekommen durch diesen Film?

Rieger: Auf ihn als Person mit Sicherheit nicht, aber auf die Einordnung von gewissen Begleitumständen, da ich ab 2000 im Unternehmen Yukos tätig war und die Vorgeschichte sicherlich aus Erzählungen und Berichten, auch aus persönlichen Gesprächen mit ihm kannte, jedoch die Hintergründe für mich waren neu, als Wegbegleiter Chodorkowskis von den Anfängen Mitte der 90er-Jahre bis 2000 zu Wort kamen. Das rückte einiges für mich ins neue, andere Bild, und die Mosaiksteinchen formten sich zu einem vollkommeneren Bild, was in den Grundfesten meine Sichtweise zu dem Mann, zu seiner Persönlichkeit nicht beeinträchtigt und nicht erschüttert hat.

Führer: Frank Rieger, der ehemalige Finanzvorstand des Yukos-Konzerns in Deutschlandradio Kultur, wir sprechen über den Film "Chodorkowski", der gestern auf der Berlinale Premiere hatte. Herr Rieger, Freunde Chodorkowskis haben bereits die Sorge geäußert, der Film könne Chodorkowski schaden. Sehen Sie auch diese Gefahr?

Rieger: Ich glaube, wenn diese Freunde, ich weiß nicht, über wen Sie jetzt sprechen, aber russische Freunde sind, oder Freunde, die in der Russischen Föderation leben, ...

Führer: Ja, russische Freunde.

Rieger: ... dann kann es durchaus der Fall sein, dass sie ein gewisses Maß an Misstrauen an ihr System haben, an das System, in dem sie leben, und wenn in diesem Film davon gesprochen wird von einigen der im Film Aussagen Treffenden, dass er durchaus geeignet sei, die Opposition anzuführen – es werden ihm politische Ambitionen nachgesagt in diesem Film –, dann glaube ich schon, dass das ein weiterer Tropfen auf den Stein sein kann, der Chodorkowski nicht zum geliebtesten Mann in seinem Lande macht. Aber Gefahr für Chodorkowski selbst – nein, es ist ein ausgewogener Film, der die Entwicklung einer Persönlichkeit darstellt, der den Leidens- und Lebensweg dieses Mannes darstellt, und der ganz eindeutig akzentuiert, warum er heute ist, wo er ist, im Gefängnis.

Führer: Eine weitere Sorge ist, dass die russische Staatsanwaltschaft an diesen 180 Stunden Filmmaterial, die Tuschi wohl zusammengebracht hat, Interesse zeigen könnte für einen eventuellen dritten Prozess. Wir wissen ja, dass Chodorkowski jetzt schon zwei Prozesse gemacht worden sind.

Rieger: Das kann ich nicht beurteilen, inwieweit das Filmmaterial, was Herr Tuschi, wie Sie sagen, über 180 Stunden zusammengesammelt hat in den letzten Jahren von Interesse für die Staatsanwaltschaft sein kann. Sollen sie sich das anschauen, sollen sie sich das Produkt anschauen, und es obliegt immerhin dann der Analyse derjenigen, die sich damit beschäftigen. Ich habe in dem Film nichts Kompromittierendes entdecken können.

Führer: Tuschi wollte den Film ja ursprünglich selbst im Mai in Moskau präsentieren, aber nach dem Einbruch in seine Berliner Produktionsräume, bei dem ja die vorläufige Endfassung des Films gestohlen wurde, und es gab ja zuvor auch noch einen Diebstahl auf Bali, da hat man ihm eine Festplatte mit dem Film gestohlen, seitdem hat Tuschi seine Meinung geändert: Er fühle sich unsicherer, hat er gesagt. Was meinen Sie, zu Recht?

Rieger: Diese Frage wurde in ähnlicher Art und Weise auch auf der Premierenveranstaltung Herrn Tuschi gestellt, und ich kann Ihnen nur, wenn auch etwas ungenau, zitieren, da ich dazu keine eigene Meinung haben kann, da ich nicht involviert war, weder in die Organisation noch Aufklärung des Diebstahls. Er sagte, wissen Sie, ich hoffe, dass diejenigen, die mich bestohlen haben, ausschließlich Interesse an meinen McIntosh-Computern hatten, und es treibt ihn mit Sorge um, so sagte er sinngemäß, dass Leute, die ihn fragten, ob dahinter nicht staatsnahe Organe aus Russland stehen, dass diese Menschen so wenig Vertrauen in das Rechtssystem ihres Heimatlandes haben.

Führer: Man fragt sich aber schon: Wer könnte denn Angst haben vor diesem Film?

Rieger: Also Angst können nur Undemokraten haben vor diesem Film, was anderes kann ich mir nicht vorstellen, und mit Verlaub gesagt, ich kann nur jedem empfehlen, diesen Film anzuschauen. Wer heute in unserer digitalisierten zivilisierten Welt mit einer Bürgergesellschaft, die in diesem Film sehr oft angesprochen wird, in einer Zivilgesellschaft, die nach demokratischen Rechtsprinzipien leben will und soll, Angst vor einem Dokumentarfilm hat, das ist wirklich dann eine bemitleidenswerte Person oder Personengruppe.

Führer: Am 30. Dezember ist Chodorkowski ja zu sechs weiteren Jahren Haft verurteilt worden, und nun, am selben Tag, an dem dieser Film Premiere hatte, nämlich gestern, hat eine ehemalige Mitarbeiterin des Richters in einem Interview erzählt, der Richter sei von der übergeordneten Justizbehörde unter Druck gesetzt worden, dieses Urteil zu verkünden. Das hat Sie ...

Rieger: Das ist nichts Überraschendes. Das ist ein weiteres Beispiel, wenn es denn der Tatsache entspricht, dass vieles in diesem Prozess um und mit Chodorkowski und Herrn Lebedew oder gegen die beiden besser gesagt gelenkt und geleitet wurde. Oblassen wir es nun der russischen Justiz, aufzuklären – und auch dafür gibt es geeignete Wege in Russland –, nachzuvollziehen, ob die Pressesekretärin des vorsitzenden Richters mit ihren gestrigen Aussagen die Wahrheit gesagt hat, und wenn, dann wäre das Skandal, der aufzuklären ist, und die Schuldigen wären dann dafür nach russischem Recht zur Verantwortung zu ziehen.

Führer: Sie hatten ja gesagt, von Anfang des Prozesses an gab es eine ständige Kontrolle, die gesamte Justiz wisse, dass es sich um ein gelenktes Verfahren gehandelt habe. Wer soll denn das dann noch aufklären?

Rieger: Wenn die Pressesekretärin des vorsitzenden Richters eine solche Aussage trifft und wahr ist, dass der Prozess unter großer Beachtung, national und international, stand, könnte ein solches Aufklärungsgremium beispielsweise eine Art runder Tisch sein, an der unabhängige Menschenrechtsbeauftragte, unabhängige Gutachter sowohl der Russischen Föderation, ehemalige Verfassungsrichter unter Hinzuziehung, wenn es gewollt ist, ausländischer Experten, eine Expertenmeinung herausarbeiten, die sowohl den Fall als auch die Vorwürfe, die die Dame gestern geäußert hat, aufklären könnte. Man muss immer noch gewisse Hoffnung hegen, dass die Worte von Präsident Medwedew, für einen Rechtsstaat, für den Aufbau, für die Festigung des Rechtsstaates in Russland einzutreten, auch im Lande gehört werden und durchgesetzt werden können.

Führer: Und Sie hegen diese Hoffnung?

Rieger: Ich halte mich an ein gutes russisches Sprichwort: "Die Hoffnung stirbt zuletzt".

Führer: Sie haben ja in der Sowjetunion studiert, Herr Rieger, später dann in Russland bei Yukos eben gearbeitet, da ziemlich Karriere gemacht. Jetzt sind Sie wieder in Berlin. Ist das Kapitel Russland für Sie beendet?

Rieger: Das Kapitel Russland ist für mich derzeit physisch, aber nicht mental beendet. Wer einmal so wie ich viele Jahre seines Lebens in der damaligen Sowjetunion und später in Russland und in der Ukraine, aber auch in anderen Teilrepubliken tätig war, den zieht es immer wieder natürlich in diese ehemaligen Sowjetrepubliken zurück, und irgendwann möchte ich auch gerne wieder in Russland arbeiten.

Führer: Frank Rieger, der ehemalige Finanzvorstand des Yukos-Konzerns. Gestern hatte der Film "Chodorkowski" auf der Berlinale Premiere. Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Rieger!

Rieger: Ich bedanke mich für Ihr Interesse!
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