Angolas Identität

Rettung der verlorenen Kultur

24:49 Minuten
Mehrer Männer bereiten auf dem Dorfplatz einen repräsentativen Thron vor.
Das angolanische Dorf Itengo ist Sitz des Königs der Chokwe Lunda: Der empfängt auf seinem geschnitzten Thron. © Deutschlandradio / Gabiele Riedle
Von Gabriele Riedle · 12.09.2022
Audio herunterladen
Die Parlamentswahl vor zwei Wochen gewann wie seit fast 50 Jahren die Regierungspartei MPLA – allerdings nur knapp. Einer der Gründe dafür könnte sein, dass sich die Haltung der Menschen in Angola zu ihrer eigenen Kultur und Geschichte ändert.
Luanda, die Hauptstadt Angolas, eine der größten Städte Afrikas, ist eine jener Metropolen, in denen die Gegensätze schärfer kaum sein könnten. Wolkenkratzer aus der Zeit des Ölförderbooms zu Beginn des neuen Jahrtausends, in ihrem Schatten die barocken Kirchen mit ihren blauen Kacheln und andere Bauten der portugiesischen Kolonisatoren, teils zerfallen, teils frisch renoviert und mit weißem Stuck verziert.
Vor allem jedoch Hütten: aus rohem Holz, aus grauen Betonsteinen, aus Plastikplanen, aus Blech. Bis zum Horizont ballen sie sich zu riesigen Vierteln. Denn während des endlosen Bürgerkriegs nach der Unabhängigkeit 1975 war halb Angola nach Luanda geflüchtet und irgendwo mussten die Ankömmlinge bleiben.
Eine Welt aus Lärm, Gestank und viel zu dicht zusammengedrängten Menschen. Aus Hühnergegacker und Gewalt. Aus täglichem Kampf um das Nötigste zum Leben. Rund 80 Prozent der Bewohner Luandas leben so. 80 Prozent von neun, zehn, elf Millionen, niemand weiß das so genau.

Sacerdote rappt gegen die Missstände

Edmar Domingos, genannt Sacerdote, 37 Jahre alt, vier Kinder, lebt fast sein ganzes Leben lang in Sambizanga, einem Armenviertel mit rund 600.000 Einwohnern am Rand des Stadtzentrums. Dort, wo einst eine Müllkippe für Industrieabfälle war. Praktisch ohne Schulbildung aber inzwischen außergewöhnlich belesen arbeitet er auf dem Bau oder repariert Computer, nachdem er entsprechende Kurse besucht hat.
Vor allem jedoch ist er einer der bekanntesten Kuduru-Musiker Luandas, der angolanischen Version des Rap. Die Musik beschäftigt sich mit den Lebensbedingungen der Leute und Sacerdote wird „der Priester“ genannt, weil er hinausgeht und den Leuten predigt, freilich auf seine ganz eigene weltliche Art.
Nach Einbruch der Dunkelheit legen Sacerdote und seine Kumpels los. An irgendeiner Straßenecke, wo billiges kaltes Bier verkauft wird, bearbeiten sie Gitarren und Tröten und alte Milchpulverdosen mit Stöcken, und Sacerdote röhrt ins Mikrofon. Dann bebt das halbe Viertel.
Sacerdote bei einem Auftritt
Der Künstlername bedeutet "Priester": Sacerdote ist einer der bekanntesten Kuduru-Musiker Luandas.© Deutschlandradio / Gabiele Riedle
Sacerdote rappt immer wieder vom täglichen Kampf ums Überleben, vom völligen Versagen des Staates, von Armut, von Korruption. Aber er rappt auch davon, wie das ganze Elend angefangen hat. Damals, unter der Kolonialherrschaft der Portugiesen, als den Einheimischen ihre Identität genommen wurde.
Die ersten portugiesischen Kolonisatoren kamen vor 500 Jahren ins Land. Besiegelt wurde das Schicksal Angolas jedoch in Berlin, bei der sogenannten Kongokonferenz 1874/75, als die europäischen Mächte sowie Russland, die USA und das Osmanische Reich Afrika am Reißbrett in Kolonien zergliederten.

„Wir sind ein Volk ohne Identität“

Auf der Konferenz von Berlin haben die Europäer Afrika aufgeteilt, ohne dass sie wussten, wer wir sind, deshalb ist es superwichtig, dass wir uns der Vergangenheit zuwenden und erfahren, wie sie war, was geschehen ist. Und dann muss man einiges korrigieren, denn ein Volk ohne Identität ist ein Volk, das nicht existiert. Um mit der Gegenwart zurechtzukommen, und um zu wissen, wer wir sind und was wir tun, müssen wir zurückgehen und lernen, wie die Vorfahren lebten, was ihre Kultur war.

Sacerdote

Tatsächlich haben die portugiesischen Kolonisatoren in Angola bis ins Jahr 1975 alles getan, um die lokalen Kulturen so weit wie möglich zurückzudrängen. So musste die angolanische Bevölkerung in den meisten Teilen des Landes katholisch werden. Ihre eigene Spiritualität wurde als geradezu teuflisch verdammt und es musste Portugiesisch gesprochen werden.
„Es ist vor allem wichtig, dass wir endlich wieder unsere ursprünglichen Sprachen lernen, weil die Sprache entscheidend ist für die Identität eines Volkes“, sagt Sacerdote. „Schließlich ist es nicht dasselbe, ob eine Geschichte in der eigenen Sprache erzählt oder ob sie übersetzt wird. Und wenn die Europäer uns nicht kolonisiert hätten, wäre unsere Geschichte nicht abgerissen. Hier in Sambizanga kann man es sehen: Es gibt viele Leute, die nur ein sehr dürftiges Portugiesisch sprechen, aber andere Sprachen sprechen sie auch nicht.“

Die eigene Geschichte war lange kein Thema

Unmittelbar nach der Unabhängigkeit 1975 wurde Angola für 17 Jahre zu einer sozialistischen Volksrepublik. Gleichzeitig versank das Land in einen Bürgerkrieg, der erst 2002 endete. So haben die Leute in Angola erst in den letzten Jahren endlich die Möglichkeit, sich mit der eigenen Geschichte und ihren Traditionen zu beschäftigen.

Obwohl Angola ein an Rohstoffen reiches Land ist, leben vor allem die Jungen ohne eine Perspektive. Das liege daran, dass es nach dem Bürgerkrieg nicht gelungen sei, im Land einen Transformationsprozess in Gang zu setzen, sagt Natalie Russmann. „Angola hat zwar vom Erdölboom profitiert, aber es ist nicht gelungen, diese Vorteile umzumünzen und das Land aufzubauen“, kritisiert die Leiterin des Auslandsbüros Namibia und Angola der Konrad-Adenauer-Stiftung.

„Es hat keine Diversifikation der Wirtschaft stattgefunden, keine Industrialisierung, keine Investition ins Bildungssystem, keine Arbeitsplätze außer im großen öffentlichen Sektor. So muss Angola Unmengen an Lebensmitteln importieren, obwohl es ein fruchtbares Land ist. Deshalb leben 80 Prozent der Bevölkerung in Angola in Armut.“ Das ganze Interview mit ihr können Sie im Podcast dieser Weltzeit hören.

Miguel Manuel, 43 Jahre alt, ist einer der bekanntesten Fernsehmoderatoren des Landes mit einer täglichen Talkshow, eine Art Markus Lanz von Angola – und ein glühender Kämpfer dafür, dass sich die Angolaner wieder ihren eigenen Traditionen zuwenden.
„Vor 20 Jahren schämten sich die Leute noch für ihre Kultur, niemand wollte sich mit seiner Provinz oder mit seiner Ethnie identifizieren. In den letzten zehn Jahren haben die Jungen angefangen, Interesse zu entwickeln an unserer Tradition, weil Kommunikationsmedien Dinge zeigten, Medien berichteten“, erklärt er.
Miguel Manuel steht vor einem Mikrofon.
Eine Art Markus Lanz von Angola: Miguel Manuel ist einer der bekanntesten Fernsehmoderatoren des Landes.© Deutschlandradio / Gabiele Riedle
Außerdem beobachten die Leute hier sehr genau, meint Miguel Manuel, wie unterschiedlich man in Europa etwa mit ukrainischen Geflüchteten und Zuwanderern aus Afrika umgeht.

Stolz auf eigene Kultur verändert das Handeln

"Ukrainer werden gut in Europa aufgenommen. Afrikaner nicht. Warum sind Ukrainer besser als wir? Deshalb müssen Angolaner stolz auf ihre eigene Kultur werden", sagt der TV-Moderator. "Es ist eine Form des Widerstands. Wenn du deinen Stolz wiederfindest, veränderst du deine Sichtweisen und damit dein Benehmen und dein Handeln. Du machst die Dinge anders, du vergleichst dich nicht mehr, du träumst nicht mehr davon, wie ein Portugiese zu sein.“
Wenn es nach Miguel Manuel ginge, sollten in Angola auch die traditionellen Anführer wieder viel mehr Einfluss gegenüber den staatlichen Institutionen bekommen. Seit Hunderten von Jahren haben die Ethnien hier Könige und Königinnen und die Gemeinden haben sogenannte Sobas – ihre Autorität wird von Generation zu Generation über die mütterliche Erbfolge weitergegeben.
Erstaunlicherweise hat diese Art von Anführerschaft nicht nur den portugiesischen Kolonialismus überlebt. Auch den angolanischen Sozialismus hat sie überstanden, denn die jeweiligen Machthaber brauchten sie, um die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten.
„Sobas spielen in ihren Kommunen eine sehr große Rolle. Wenn sie etwas sagen, folgen ihnen die Leute. Abgesehen von Luanda haben sie überall Respekt. Sie sind für vieles verantwortlich, für die Art, wie die Leute arbeiten, für ihre Spiritualität, für traditionelle Bildung, sogar für Gerechtigkeit, denn wir haben traditionelle Gerichte, an die sich viele wenden – dennoch steht das öffentliche Recht über diesem Recht und da gibt es Konflikte“, erklärt Miguel Manuel.

Aber die Sobas bewahren unsere Kultur – wenn wir sie verlieren, verlieren wir unser Gedächtnis. Unsere Regierungen brauchen diese Anführer als Berater, besonders im Konfliktfall. Afrikanische Probleme müssen mit afrikanischem Wissen gelöst werden. Mit afrikanischer Weisheit. Wir versuchen, Probleme auf europäische Art zu lösen.

Miguel Manuel

Lunda Chokwe im Nordosten Angolas

Ortswechsel. Das Dorf Itengo, Sitz des Königs der Chokwe Lunda in der Savanne im Nordosten des Landes, 1000 Kilometer von der angolanischen Hauptstadt entfernt. Eine Region an der Grenze zum Kongo, eine jener Grenzen, die damals auf dem Reißbrett in Berlin gezogen wurden. Seither liegt ein Teil des einst mächtigen Großreiches auf jetzt kongolesischem Staatsgebiet.
Königs der Chokwe Lunda posiert für ein Foto.
Der König der Chokwe Lunda: Bevor sein Vorgänger starb, war er erst Mechaniker und dann Mathematiklehrer.© Deutschlandradio / Gabiele Riedle
Der König empfängt auf seinem geschnitzten Thron auf dem Dorfplatz. Er ist 43 Jahre alt, eine jugendliche Erscheinung in einer Art Kleid aus gemustertem afrikanischem Stoff und aus demselben Stoff trägt er eine Krone mit Zacken wie aus dem Kinderbuch. In der Hand hält er einen geschnitzten Königsstab und ein Zepter.
Bevor sein Vorgänger starb und ihm die Königswürde vererbte, war er erst Mechaniker und dann Mathematiklehrer. Die Würde und die Ruhe selbst hält er jetzt Hof im wortwörtlichen Sinne und wird von den Dorfbewohnern bejubelt.
„Der wahre König respektiert die Traditionen und verteidigt die Interessen seines Volkes als dessen Verbündeter. Früher haben alle zusammengelebt, sind zusammen auf die Jagd gegangen und haben das Fleisch miteinander geteilt und in die Gemeinschaftshütte gegeben. Hier ist eines der wichtigsten Diamantenabbaugebiete der Welt, trotzdem ist die Armut enorm, und deshalb müssen die traditionellen Anführer Partei ergreifen für ihr Volk“, sagt er.

Leben im Diamantminen-Gebiet

Nur 30 Kilometer Luftlinie vom Dorf des Königs entfernt liegt die Catoca-Mine, die viertgrößte Diamantmine der Welt. Einst war die Gegend im Nordosten Angolas berüchtigt für ihre sogenannten Blutdiamanten, mit denen auch der 27-jährige Bürgerkrieg mitfinanziert wurde.
Heute sind die Minen verstaatlicht, an der Cataco-Mine ist ein russisches Konsortium zu einem Drittel beteiligt. Doch die Bevölkerung hat nach wie vor nichts vom Reichtum.
Verschmutzte Flüsse nehmen vielen die Lebensgrundlage, für neue Minen werden immer wieder Dörfer umgesiedelt, und auch Arbeit gibt es in den hoch technisierten Anlagen nur für wenige. So bleibt vielen nichts anderes übrig, als illegal zu schürfen.
Zu Zehntausenden graben sie mit nichts als Spitzhacken in der roten Erde, manche Landstriche sind voller Gräben und Krater. Viele sterben bei Erdrutschen, auf der Flucht vor der Polizei oder bei gewaltsamen Revierkämpfen. Der König versucht, seinen Leuten zu helfen.

Ihr König sorgt für die Lunda Chokwe

„Wir arbeiten mit Minenunternehmen zusammen, die die Menschenrechte nicht unbedingt respektieren, und wir achten darauf, dass sie ihre soziale Verantwortung wahrnehmen. Manchmal behandeln die Unternehmen Kinder schlecht und respektieren die Frauen nicht“, erklärt der König.

Verschiedene Organisationen arbeiten mit mir zusammen, mit anderen Sobas und mit den Gemeinden, zu denen ich engen Kontakt habe. In der Regel darf eine traditionelle Autorität nicht parteiisch sein, sondern sie ist wie ein Vater. Niemand darf denken, dass er nicht mein Sohn ist.

König der Chokwe Lunda

Der jugendliche König sieht sich nicht nur als Fürsprecher seines Volkes gegenüber den Minengesellschaften und der Regierung, sondern etwa auch gegenüber den Ahnen und den Geistern.
„Spirituelle Praktiken sind immer Teil unseres Lebens. Wenn zum Beispiel eine Frau keine Kinder bekommen kann, finde ich heraus, ob ein Fluch daran schuld ist. Oder wenn ein Jäger keine Tiere findet, versuche ich durch Rituale herauszufinden, woran das liegt. Als König kann man da einiges machen. Wir glauben sehr an unsere Vorfahren, und ich wurde auserwählt, deshalb hören mir die Vorfahren zu“, erzählt er.

Rückgabe wichtiger Kulturgüter gefordert

Und so kümmert sich der König der Lunda Chokwe auch darum, dass wenigstens einige jener Kulturgüter nach Angola zurückkehren, die während der Kolonialzeit außer Landes gebracht wurden.
Die Figur des Chibinda Ilunga zum Beispiel, eine Skulptur aus schwarzglänzendem Holz, eine Herrschergestalt mit großen Füssen, großen Händen, großen Augen, großem Mund. Chibinda Ilunga gründete vor über 400 Jahren jenes mächtige Großreich, dessen Erbe der jugendliche König mit seiner Krone aus Stoff bis heute fortsetzt.
Zu sehen ist das Bildnis des Ur-Ur-Ur-Ahns des heutigen Königs allerdings in Berlin im Ethnologischen Museum, 7000 Kilometer Luftlinie entfernt von seinem einstigen Reich. Es ist eines der wichtigsten Stücke der hiesigen Afrika-Sammlung. Doch auch hier hat die Debatte um die Rückgabe von afrikanischen Kulturgütern etwas in Bewegung gebracht. Gemeinsam mit dem Goethe-Institut in Luanda und dem dortigen Museum für Anthropologie hat das Ethnologische Museum begonnen, die Bedeutung seiner über 6000 Exponate aus Angola zu erforschen.
„Es ist wichtig, uns den Chibinda Ilunga zurückzugeben. Denn Chibinda Ilunga steht am Anfang der Geschichte des Königreichs der Lunda Chokwe“, sagt der König. „Wenn wir die Figur hier haben, können wir der jungen Generation ihre Bedeutung erklären. Der König ist dafür verantwortlich, dass sein Volk sich vermehrt. Er muss seine Kultur schützen, die Sitten, die Tradition bewahren und das Wohlbefinden seiner Bevölkerung stärken. Wenn ein Volk traurig und krank ist, ist der König auch traurig und krank.“

Abonnieren Sie unseren Weekender-Newsletter!

Die wichtigsten Kulturdebatten und Empfehlungen der Woche, jeden Freitag direkt in Ihr E-Mail-Postfach.

Vielen Dank für Ihre Anmeldung!

Wir haben Ihnen eine E-Mail mit einem Bestätigungslink zugeschickt.

Falls Sie keine Bestätigungs-Mail für Ihre Registrierung in Ihrem Posteingang sehen, prüfen Sie bitte Ihren Spam-Ordner.

Willkommen zurück!

Sie sind bereits zu diesem Newsletter angemeldet.

Bitte überprüfen Sie Ihre E-Mail Adresse.
Bitte akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung.
Mehr zum Thema