Angela Mutlos oder Kanzlerin der ruhigen Hand

Von Corinna Emundts |
Nicht zu handeln ist auch eine Art zu handeln. Wer nichts tut in entscheidenden Situationen, kann sich genauso schuldig machen wie einer, der überstürzt handelt und dabei Fehler macht. Oder eine: Bundeskanzlerin Angela Merkel musste zum zweiten Konjunkturpaket fast getragen werden, so schien es zumindest. Mitten in der schweren Finanz- und Wirtschaftskrise wird ihr Politikstil der ruhigen Hand fragwürdig.
Angela Merkel hat vor Journalisten gelegentlich mal ein Beispiel aus ihrer Schulzeit herangezogen, um ihre Art Politik zu machen zu erklären. Da stand sie im Schulsport eine halbe Ewigkeit lang auf dem Drei-Meter-Brett und zögerte zu springen. Schließlich sprang sie doch – in der allerletzten Minute. Sie hat es gern, wenn man sagt, sie denke Entscheidungen vom Ende her, versuche die Folgen abzuwägen – und das hat ihr auch oft geholfen. Das geht, wenn sich Gesellschaft und Konjunktur langsam stetig verändern. Und Politik wie ein Strippenzieher im Hintergrund ordnend eingreifen kann. Das war die Erfahrung der vergangenen fünf Jahre, seit Merkels Vorgänger Schröder die Agenda 2010-Reform anberaumte.

Nur in der jetzigen Krisen-Situation, die keiner in Merkels Umfeld in dieser Intensität vorausgesehen hat – wenn alle Gewissheiten quasi über Nacht zusammenbrechen – lässt sich nichts mehr vom Ende her denken. Weil das Ende nicht berechenbar ist. Es gibt für die jetzige Lage keine Blaupause. Manche älteren Banker sprechen von einer Situation, die mit keiner seit Gründung der Bundesrepublik vergleichbar ist. Man kann zumindest davon ausgehen, dass Merkel das begriffen hat. Sie räumte bereits in ihrer letzten Regierungserklärung ein, für diese Situation gebe es kein Drehbuch.

Es gab kein Geheimdossier im Kanzleramt oder im Finanzministerium, was einem Frühwarnsystem gleich die Regierenden hätte vorbereiten können. Sie sind von den Nachrichten aus der globalen Finanzwelt genauso überrascht worden wie die Bevölkerung selbst. Und es ist durchaus abenteuerlich, wie schnell teilweise in Europa, aber auch unter deutschen Politikern wichtige Ziele über Bord geworden wurden – Staatsverschuldung und vor allem die Neuverschuldung zu Lasten jüngerer und künftiger Generationen scheint plötzlich keine Rolle zu spielen. Dabei hatte die deutsche Politik gerade erst äußerst zaghaft angefangen, diese abzubauen.

Dass sich Angela Merkel an dieser panikartigen Spendabilität nicht sofort beteiligte, muss kein Fehler sein. Sich erst einmal einen Überblick über die Lage zu verschaffen und Manager wie Experten an einen Tisch zu laden, um sich gemeinsam ein Bild der Krise zu machen, auch des Ausmaßes, das ist einfach nur seriös. Das entspricht ihrer Natur: Erst forschen, dann handeln. Schließlich gilt immer noch, dass sich Staatsgeld nur einmal ausgeben lässt und dass sie im Sinne der Steuerzahler verantwortlich damit umgehen muss. Es also nicht einfach in Maßnahmen steckt, die gut klingen, aber übermorgen folgenlos verpufft sein können.

Man kann Merkel in der Krise eher vorwerfen, dass sie nicht souverän kommuniziert hat, was sie zu tun gedenkt. Und wenn sie abwartet – weshalb sie dies macht. Stattdessen hat sie sich stur schweigend von Hansdampf Sarkozy aus Frankreich vorführen lassen; ohne sich zu wehren. Es wirkt sogar so, als ob sie sich selbst von ihrer kleinen Schwesterpartei treiben lässt.

Aber kann man überhaupt davon ausgehen, dass Merkel jetzt vollkommen neutral handelt – kurz vor Beginn des Superwahljahres 2009, aus dem sie gerne als Kanzlerin erneut hervorgehen will? Es wäre naiv zu glauben, dass nicht auch schon Wahlkampfkalkül hineinspielt in ihr Handeln – auch das erklärt ihr Zögern. Je später sie die Spendierhosen anzieht, desto eher werden sich die Menschen in der Wahlkabine im September noch daran erinnern.

Das neue Jahr wird von Merkel eine Menge Mut fordern – was ihr nicht so liegt. Mut, etwas gegen das eigene Wahlkampf-Kalkül zu tun, weil schnell gehandelt werden muss. Mut zum Irrtum, weil in Krisensituationen Fehler kaum vermieden werden können. Mut, diese Irrtümer dann einzugestehen und schnell zu korrigieren. Es ist noch unklar, ob sie "Angela Mutlos" bleibt, wie der "Spiegel" jüngst titelte. Ihr erst kürzlich geschehenes Einknicken bei den Klimaschutzzielen in Europa zugunsten von Brancheninteressen in Deutschland jedoch hat gezeigt, dass auch sie sich und ihren liebgewonnen Etiketten wie "Klimakanzlerin" untreu werden kann.

Corinna Emundts, geb. 1970, ist politische Journalistin in Berlin. Die Theodor-Wolff-Preisträgerin des Jahres 1995 hat u. a. für "Die Zeit", "Zeit online", die "Süddeutsche Zeitung", die "Frankfurter Rundschau" und "Die Woche" gearbeitet. Derzeit leitet sie die Berliner Redaktion von "Tagesschau online" im ARD-Hauptstadtstudio.
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Corinna Emundts© Arne Siemeit