Angela Merkel in der Fiktion

Von Michael Kleeberg |
Der Schriftsteller Michael Kleeberg macht sich auf die Gedankenreise: Wenn Angela Merkel nicht Bundeskanzlerin, sondern eine literarische Figur wäre, was wäre sie dann für ein Mensch?
Real existierende Politiker in Werke der Fiktion einzubauen kann auf zwei Wegen geschehen: zum einen kann man ihre Namen und ihre öffentlichen Bilder in einen Text hineinmontieren. Das dient meistens zur Illustrierung eines bestimmten Zeitkolorits.

Man kann aber auch nach der Proustischen Methode arbeiten und anhand einer genauen Analyse der Sprache und der Handlungen dieses Politikers einen Typus herauspräparieren, den man dann in einem anderen physischen und sozialen Kontext als handelnde Person in seinen Text integriert.

Dabei müssen bestimmte Konstanten berücksichtigt bleiben, zum Beispiel der Zeitrahmen, die soziale Stellung etc. Andere Parameter können total wechseln. Ich habe etwas derartiges gerade vor kurzem anhand des Beispiels einer bekannten Theologin getan.

Müsste ich Angela Merkel, von deren Innenleben man kaum etwas weiß, in eine literarische Figur verwandeln, so würde ich zunächst nach einem Punkt suchen, an dem ich - horribile dictu - durch die glatte öffentliche Haut in sie eindringen könnte. Eine offene Stelle, eine Schramme, so darf man sich das denken, durch die der Keim der literarischen Analyse in die Blutbahn gelangen kann.

Das einzige, was mir in dieser Hinsicht an der Kanzlerin bislang aufgefallen ist, war ihr Verhalten während der Kür der letzten Bundespräsidenten. Ihr Vorgehen, das ich weder menschlich noch politisch so recht verstand, zwang mich zum Nachdenken.

Schließlich bin ich zu dem Schluss gekommen, dass Frau Merkel aufgrund ihrer Sozialisation kein inneres Verhältnis zu und kein inneres Verständnis für dieses Phänomen eines "Bundespräsidenten" hat.

Es ist auch eine so typisch westdeutsche Erfindung der alten rheinischen BRD, geboren aus tausend Überlegungen, die in der DDR niemals jemand angestellt hat, und zu diesem kleinen "Mythos" kennt sie einfach die Erzählung nicht. Denn jede politische Tradition hat ja solch eine eigene Erzählung und kann nur von denen innerlich akzeptiert werden, denen diese Erzählung bekannt ist.

Frau Merkel dagegen ist groß geworden in einem System, in dem für die Ordnung des Landes einzig zählte, wer die Macht hatte, nämlich der Partei- und Regierungschef, und nicht, wer den Popanzposten eines Staatschefs innehatte. Es zählte also nicht Pieck, es zählte Ulbricht.

Und vielleicht deshalb – so meine Theorie – geht die Kanzlerin mit dem Präsidentenamt und dessen Inhaber ein wenig schnöde um. Sie kennt die Erzählung nicht, nach der hier von einem besonderen Begriff von "Würde" die Rede ist.

Ob diese Theorie nun stimmt oder nicht: Auf solche Überlegungen würde ich die fiktive Gestalt "Merkel" aufbauen, würde sie nicht unbedingt zur Kanzlerin machen, aber zu einem Beispiel für die aus verschiedenen Sozialisationen kommenden unterschiedlichen Politikverständnisse zwischen Ost- und Westdeutschen und deren Konsequenzen.
Würde ich, aber werde ich nicht, denn die ultimativen literarischen Folgerungen aus solchen Gedankenspielen hat leider, wie ich kürzlich las, schon ein anderer gezogen.

Seine Idee: Die gesamte Wende ist das Werk der Stasi gewesen, die die DDR auf den Bankrott zusteuern sah und den Plan fasste, den Westen die Sanierung bezahlen zu lassen und dann hinterher sukzessive die eigenen besten Leute wieder an die Spitze zu bringen: zunächst Michael Ballack, dann Angela Merkel und zum Schluss Joachim Gauck.


Michael Kleeberg wurde 1959 in Stuttgart geboren und wuchs in Süddeutschland und Hamburg auf. Er studierte Politische Wissenschaften und Geschichte an der Universität Hamburg. Nach Aufenthalten in Rom und Amsterdam lebte er von 1986 bis 1999 in Paris. Heute arbeitet er als freier Schriftsteller und Übersetzer aus dem Französischen (Marcel Proust) und Englischen (John Dos Passos) in Berlin. Neben Erzählungen und der Novelle Barfuß (1995) veröffentlichte er die Romane Proteus der Pilger (1993, Anna-Seghers-Preis 1996) und Ein Garten im Norden (1998, Lion-Feuchtwanger-Preis 2000).

Zuletzt erschienen bei DVA der Roman Der König von Korsika (2001), 2004 das vielbeachtete libanesische Reisetagebuch Das Tier, das weint und der Roman Karlmann (2007), für den er den Irmgard-Heilmann-Preis 2008 erhielt. Sein aktueller Roman "Das amerikanische Hopital (2010)" wurde mit dem Evangelischen Buchpreis ausgezeichnet. Sein Werk ist in zahlreiche Sprachen übersetzt. Michael Kleeberg war Stadtschreiber 2008 der Stadt Mainz, des ZDF und 3sat. Gerade erscheint sein erstes Kinderbuch "Luca Puck und der Herr der Ratten" (2012) im Dressler Verlag, das er für seine Tochter geschrieben hat.
Michael Kleeberg
Michael Kleeberg© Jörg Schwalfenberg