Anerkennung der vielfältigen Familienwirklichkeit ist zwingend

Von Heinz-Jürgen Voß · 24.07.2013
Lesben und Schwule dürfen zum Beispiel in den Niederlanden genauso heiraten und Kinder adoptieren wie alle anderen. Nicht in Deutschland, angeblich wegen des Kindeswohls. Ein falsches Argument, meint der Sozialwissenschaftler Heinz-Jürgen Voß.
Was ist Familie? Wer verdient besonderen staatlichen Schutz?

Diese Fragen sind nicht neu. Schon seit Jahrzehnten wird darüber in der Bundesrepublik immer wieder heftig gestritten. In den 1970er-Jahren etwa sollten uneheliche Kinder den ehelichen Kindern rechtlich gleichgestellt werden. Bis dahin wurden sie unter anderem beim Erbe benachteiligt. Der Widerstand gegen diese Reform war so erbittert wie vergeblich. Auch durfte damals der Ehemann noch die Arbeitsstelle seiner Frau kündigen, wenn sie "ihre familiären Verpflichtungen" vernachlässigte. Auch das wurde geändert.

Bei der Frage "Was ist Familie?" geht es also nicht darum, wie Menschen zusammenleben. Es gab in der Bundesrepublik schon immer Familien mit unehelichen Kindern. Und heute gibt es eben Familien, in denen Lesben, Schwule und transgeschlechtliche Menschen Verantwortung für Kinder übernehmen. Das ist die Wirklichkeit. Die Frage "Was ist Familie?" kreist um rechtliche Anerkennung dieser Realität.

Mit unehelichen Kindern hat inzwischen kaum noch jemand ein Problem. Regenbogenfamilien dagegen haben bis heute viele Probleme, die ihnen das Leben schwer machen. Dass etwa eine lesbische Frau das leibliche Kind ihrer Lebensgefährtin aus dem Kindergarten abholen kann, ist längst nicht in allen Regionen Deutschlands problemlos möglich. Für Papa-Mama-Beziehungen ist es eine Selbstverständlichkeit.

Bei der Frage um Familie geht es aber nicht nur um Ehe oder Kinder. Familie bedeutet auch, Verantwortung für ältere Menschen zu übernehmen, Angehörige zu pflegen, und es geht um das juristische Verhältnis zwischen Menschen, die sich nahestehen.

Wie all das geregelt werden kann, hat Frankreich schon vor der Jahrtausendwende vorgeführt, mit dem sogenannten "Zivilen Solidaritätspakt". So einen Pakt schließen in Frankreich Jahr für Jahr mehrere zehntausend Menschen. Er ist unabhängig von Geschlecht, sexueller Orientierung und vom Verwandtschaftsverhältnis und ermöglicht weitreichende Rechte, ähnlich wie die Ehe. Von der Gütergemeinschaft über gemeinsame steuerliche Veranlagung bis hin zu Erbbestimmungen. Von der Sozialversicherung über das Mietrecht bis zum Arbeitsrecht. Nur eines fehlt: das Adoptionsrecht.

Lesben und Schwule im politischen Schussfeld
Genau darum wird jetzt in Frankreich gestritten. Doch diese Debatte ums Adoptionsrecht wurde nun unglücklich damit verknüpft, die Ehe für homosexuelle Paare zu öffnen. Und so geht es plötzlich nicht mehr um die Bedürfnisse der Kinder – diese brauchen eine vertraute Umgebung und damit auch rechtlich anerkannte Eltern. Stattdessen sind Lesben und Schwule ins politische Schussfeld geraten.

Und hierzulande?

Dass Lesben und Schwule nicht mehr diskriminiert werden sollen – diese Entscheidung ist in der Bundesrepublik mit der Abschaffung des Strafparagraphen gegen Homosexualität gefallen. Das war 1994. Auch arbeitsrechtlich tut sich viel, auch weil den Arbeitgebern klar wird, dass Menschen, die nicht diskriminiert werden, leistungsfähiger sind und kreativer. Wenn aber gesellschaftlich eine so deutliche Entscheidung gegen Diskriminierung gefallen ist, warum werden dann die Kinder weiter benachteiligt, die bei lesbischen, schwulen und transgeschlechtlichen Eltern leben?

Die Familienwirklichkeit ist vielfältiger geworden, und ihre rechtliche Anerkennung ist fast schon zwingend. Jetzt mag die Bundespolitik langsam an das volle Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare denken. Doch weitere Änderungen zeichnen sich ab: Warum wird zum Beispiel Kindern von Flüchtlingen und von Staatenlosen die deutsche Staatsbürgerschaft vorenthalten, selbst wenn sie hierzulande geboren sind?

Mit den Fragen "Was ist Familie?" und "Wer verdient besonderen staatlichen Schutz?" werden wir uns noch einige Male auseinandersetzen müssen.

Heinz-Jürgen Voß, Jahrgang 1979, ist externer Mitarbeiter am Institut für Sprachgebrauch und Therapeutische Kommunikation an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) und arbeitet in Hannover zu medizin- und biologieethischen sowie geschichtlichen Fragen. Er promovierte zu biologisch-medizinischen Geschlechtertheorien. Letzte Veröffentlichung: "Biologie und Homosexualität. Theorie und Anwendung im gesellschaftlichen Kontext" (Unrast Verlag) sowie "Interventionen zur deutschen 'Beschneidungsdebatte'" (mit Zülfukar Çetin und Salih Alexander Wolter, Edition Assemblage).
Der Sozialwissenschaftler Heinz-Jürgen Voß
Heinz-Jürgen Voß© privat
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