Anerkennung als Lebensmotor

Von Astrid Mayerle · 13.11.2010
Gelebte Nächstenliebe - was kann das heute heißen? Gegenseitige Wertschätzung – so der Vorschlag aus Theologie und Philosophie - könnte helfen, eine Kultur der Anerkennung. Sie erleichtert das Zusammenleben und ist nicht etwa naiver Ballast für gute Zeiten.
Bärbel Wardetzky: "Man hat ja Untersuchungen gemacht, dass die Einstellung des Lehrers zu einem Schüler eine prognostische Konstante ist für den Schulerfolg des Kindes. Also wenn Lehrer sagen, du schaffst das, dann erreicht ein Kind viel bessere Noten, als wenn er sagt, der kommt sowieso zu einer Familie, in der eh alle doof sind. Auf jeden Fall ist völlig klar, wir lernen durch Lob und nicht durch Bestrafung und wir lernen auch über Tun."

Als Kind Anerkennung zu erfahren, ist prägend für das ganze Leben. Es stärkt das Selbstbewusstsein und schafft Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Aber nicht nur Kinder profitieren von Anerkennung, auch Erwachsene: Beachtung und Wertschätzung stärken sogar bei Kranken den Überlebenswillen, das heißt, sie werden schneller gesund. Nobelpreisträger leben im Schnitt anderthalb Jahre länger als ihre Kollegen, die nur ausgezeichnet, aber nicht prämiert wurden. Ausnahmeerscheinungen? Nein, Anerkennung ist ein Lebensmotor, ein Vitalitätskatalysator, meint der amerikanische Psychologe Nathaniel Branden, der vom Selbstwertgefühl als "Immunsystem des Bewusstseins" spricht.
Aber was ist eigentlich Anerkennung? Die Philosophie hat sich mit dieser Frage intensiv beschäftigt, Ludwig Siep ist Philosoph:

"Der Begriff Anerkennung spielt eine Rolle in der Philosophie eigentlich seit Johann Gottlieb Fichte, einem Philosophen des deutschen Idealismus, der am Ende des 18. Jahrhunderts in seiner Grundlegung der Rechtsphilosophie geschrieben hat, dass man ohne wechselseitige Anerkennung überhaupt kein richtiger Mensch sein kann, seiner selbst nicht richtig bewusst werden kann und die wechselseitige Anerkennung eine Selbstbeschränkung voraussetzt: Man muss den Anderen gelten lassen, um vom anderen wiederum anerkannt, bestätigt zu werden. Also die grundlegende Form ist der Gewaltverzicht und die Zustimmung zu den gleichen Rechten eines jeden. Das ist die Basis der Anerkennung, die für Fichte das Rechtsverhältnis begründet und ohne das kann man kein selbstbewusster Mensch sein."

Es geht also um einen wechselseitigen Austausch, ein kommunikatives Verhältnis. Georg Wilhelm Friedrich Hegel hat zum Kern seiner Philosophie der Anerkennung das Sich-spiegeln-im-Anderen gemacht, wörtlich, man "schaut sich in jedem als sich selbst an". Der Andere als Spiegel. Hegel hat sich in dem Zusammenhang auch mit dem Begriff der Nächstenliebe beschäftigt. Das christliche Modell der Nächstenliebe beinhaltet eine Variation der Vorstellung vom Sich-spiegeln-im-Anderen, denn der Mensch spiegelt sich genau genommen zweifach. Die bayerische Regionalbischöfin Susanne Breit-Kessler:

"Das Zentrum unseres Glaubens ist, dass Gott uns annimmt, wie wir sind, mit unseren guten und Schattenseiten, dass seine Liebe nichts ist, was man sich verdienen könnte oder sollte, sondern sie wird einem zugesagt und zugesprochen. Wenn diese Liebe mir zugesagt wird, wenn ich daran glaube, dass Gott mich liebt – mit all meinen Fehlern, mit allem, was ich kann, mit allem, worin ich gescheitert bin, dann gilt das natürlich meinem Nächsten auch. Und dann kann ich doch nicht hergehen und sagen, ich setze mich über Gott und urteile den andern ab, mobbe ihn, gehe unfair mit ihm um. Also das ist eine ganz logische Konsequenz aus dieser Überzeugung, dass Gott uns Menschen liebt und uns mit seiner Liebe entgegenkommt."

Daraus folgt auch, der Ort der Anerkennung ist das Gespräch: Den Anderen aussprechen lassen, seine Meinung anhören, seinen Standpunkt nicht abwerten, sondern fair Kritik üben, auf Augenhöhe bleiben.

Susanne Breit-Kessler: "Für mich ist das Wichtigste, einen Menschen mit seiner Geschichte erstmal anzuhören. Denn wenn wir von Nächstenliebe sprechen, dann folgt ja daraus, dass ich zunächst mal akzeptieren will, was der andere mitbringt, was er schon erlebt hat in seinem Leben – und sei es ein anderthalbjähriges Leben oder ein neunzigjähriges. Nächstenliebe bedeutet, ich setze mich erstmal hin und höre dem anderen zu. Ich konfrontiere ihn nicht mit meinen eigenen Vorstellungen und Wünschen, sondern ich warte, was hat mir dieser Mensch zu sagen, gar nicht mal zu geben, man muss nicht sofort so egozentrisch sein, sondern: Was hat er zu sagen, was hat er zu erzählen?"

Wahrnehmen, hinhören, ausreden lassen, die andere Position gelten lassen, dem Gegenüber Zeit und Raum geben. Gerade in beruflichen Konfliktsituationen kommt all das oft zu kurz. Dort geht es erstmal um die Sache und nicht um denjenigen, der sich mit ihr beschäftigt oder gerade mit ihr hadert. Die Psychologin Bärbel Wardetzky:

"Ich würde einmal sagen, dass Anerkennung schon mal darin liegt, dass ich meine Mitarbeiter nicht unter Druck setze. Denn sobald ich sie unter Druck setze, schätze ich sie nicht wert als die Person, die sie sind, sondern dann geht es darum, dass sie funktionieren. Und Wertschätzung ist meiner Meinung nach etwas viel Weiteres und hat viel mit der Würde des Menschen zu tun und inwieweit ich die respektiere. Es gibt meiner Meinung nach zwei Tendenzen in der Arbeitswelt: Auf der einen Seite fangen wir an, über Ethik zu reden – in der Wirtschaft, im Beruf und auf der anderen Seite haben wir diesen unglaublichen Leistungsdruck, der oftmals wirklich ethisches Verhalten oder ethische Motive ausschließt und da sehe ich zwei verschiedene Bestrebungen, wobei ich glaube, dass diese Wertschätzung und Anerkennung den geringeren Teil einnimmt."

Wenn die Motivation nachlässt, Mitarbeiter freiwillig kündigen oder Krankheitstage zunehmen, kann dies ein Zeichen dafür sein, dass die Kultur der Anerkennung in einem Betrieb nicht besonders gepflegt, ja, vernachlässigt wird. Trotzdem nehmen sich Vorgesetzte oft wenig Zeit für positive Signale an ihre Mitarbeiter. Nach dem Motto, wenn nicht gemäkelt wird, ist es schon in Ordnung, passt es schon, der Lohn sei schließlich auch eine Form der Anerkennung. Die Psychologin Bärbel Wardetzky ist überzeugt, dass beide Seiten von einem positiven Feedback profitieren:

"Das schaffst du schon, das trau ich dir zu, Entscheidungskompetenz zu geben, jemandem das Gefühl zu geben, wichtig zu sein, im Team, auch Leute je nach ihren Begabungen einzusetzen, zu schauen, gibt es Möglichkeiten, jemandem auch die Arbeit zu geben, die seinen Fähigkeiten entspricht. All solche Sachen, wo Menschen sich gesehen fühlen.

Ich glaube, das ist eines der wesentlichen Motive des Menschen: Wir wollen uns gesehen fühlen vom Anderen. Das ist uns ein ganz tiefes Bedürfnis und das gibt uns Anerkennung. Gesehen werden heißt, da schaut jemand, ob ich da bin, als Person, wer ich als Person bin, geht auf mich ein, natürlich ist ein Arbeitsplatz keine Selbsterfahrungsgruppe und trotz allem ist es so etwas wie das Gefühl, der andere respektiert mich, der schaut hin, ich bin müde, ich bin krank, dann heißt es, okay, dann müssen Sie zu Hause bleiben und sich auskurieren. Das ist auch Wertschätzung."

Der Philosoph Ludwig Siep unterscheidet allerdings verschiedene Konstellationen, berufliche und private:

"Man muss glaube ich unterscheiden bei der Anerkennung zwischen partnerschaftlichen und Beziehungen in größeren Konstellationen. Bei den Partnerbeziehungen ist das Gegenteil von Anerkennung Verletzung, Verständnislosigkeit, der Versuch, einander zu beherrschen oder umgekehrt sich zu sehr unterzuordnen. Man hat seine eigene Stärke auch und kennt sie, und der Andere soll sie auch anerkennen. Sich nicht eingestehen, dass der andere auch Recht haben könnte – das ist heute wirklich wichtig, auch zwischen den Religionen."

Hegel behauptet, Anerkennung sei wichtig, weil sie Gemeinschaft stifte. Außerdem erfahren wir in dem Moment des Anerkanntwerdens uns selbst als Individuum. Gegenseitige Anerkennung ist außerdem die Voraussetzung für ein freies Handeln. Es bedeutet, sich in einen anderen, in ein Gegenüber hineinversetzen zu können, einen Standpunktwechsel vornehmen zu können. Freie Entscheidungen treffen zu können, nicht nur unter Druck, sondern aus Überzeugung. Schließlich zeigt sich eine Form der Anerkennung dort, wo sie ganz und gar freiwillig, im besten Fall ohne gegenseitige Verpflichtung geschenkt und erfahren wird: in der Liebe.

Ludwig Siep: "Wenn man bei Hegel bleibt: Die Liebe als persönliches Verhältnis zwischen zwei Menschen ist für ihn nicht die höchste Form, es gibt umfassender Formen von Solidarität, Versöhnung, die dann höher stehen. Vor allem muss man bei Hegel beachten, dass auch so etwas wie Kampf zu Formen der Anerkennung gehört. Eine Auseinandersetzung, die den anderen ernst nimmt, die sich von ihm abgrenzt, die sich mit ihm auch streitet. Nun muss man der Liebe selber sehr verschiedene Formen unterscheiden, die völlige Hingabe in der Liebe geht eigentlich über Anerkennung hinaus."

Die emanzipierten, modernen Paare sind trainiert in Gleichberechtigung, sie sehen zu, dass alles schön ausglichen ist, Wochenpläne für den abwechselnden Einkauf, alles wird geteilt, halbiert, symmetriert: Die Frau übernimmt dann auch gerne die Fahrt zum TÜV und der Mann holt die Kinder von der Schule ab.

"Bei Anerkennung ist die Zustimmung zum Anderen, die Bereicherung durch die Begegnung immer verbunden mit diesem Rechtsaspekt und der sagt auch, dass man sich selbst bejaht und dass man ein symmetrisches Verhältnis hat. In einer guten Partnerschaft ist das natürlich immer der Fall, aber wenn man Liebe in einer sehr anspruchsvollen Form nimmt, dann ist das eine Art von Wegschenken, die diese Selbstbehauptung nicht mehr enthält, die zur Anerkennung gehört."

Selbstbehauptung unter Paaren: Bei Hegel gibt es das Moment des Kampfes durchaus auch in Liebesbezeihungen, doch die Auseinandersetzung in der Partnerschaft bedeutet eine Art von Abgrenzung der eigenen Interessen und der des anderen: Man muss den Partner ehrlich und wohlwollend kritisieren können. Auch wenn das verletzend sein kann.

"Ich glaube generell – und das ist etwas, was Wilhelm von Humboldt mal sehr schön gesagt hat -, wenn man nicht wechselseitig Stärken anerkennt, Stärken beim anderen auch sieht, dann gibt es keine stabile Partnerschaft. Wenn man sich selber nur untergeordnet sieht oder den anderen, dann gibt es einseitige Beziehungen der Unterwerfung, aber keine Partnerschaft. Partnerschaft setzt voraus, dass es tatsächlich immer etwas gibt – und das gibt es auch, wenn man es sieht, wenn man es sehen lernt –, was man am anderen bewundern kann."
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