"Anerkennen, welche freien Übereinkünfte Menschen treffen"

Hartmut Kliemt im Gespräch mit Susanne Führer · 20.02.2013
In der Debatte um Frank Schirrmachers Buch "Ego" fordert der Philosoph und Ökonom Hartmut Kliemt mehr Vorsicht. Eines der wichtigsten Ziele bei moralischen Orientierungen sei, "dass sie sich auch für uns am Ende auszahlen müssen". Man solle hinnehmen, das für alle möglichen Dinge Geld bezahlt werde.
Susanne Führer: Was ist der Mensch? Eine große Frage, auf die viele verschiedene Antworten möglich sind, je nachdem, wen man fragt. Eine Ärztin wird eine andere Antwort geben als ein Priester, eine Psychologin eine andere als ein Wirtschaftswissenschaftler. Der würde vielleicht den Begriff Homo oeconomicus ins Spiel bringen, also das Modell vom Menschen, der stets auf seinen Nutzen, auf seinen wirtschaftlichen Vorteil bedacht ist.

Wie sinnvoll ist dieses Modell? Darüber will ich jetzt mit Hartmut Kliemt sprechen, er ist Professor für Philosophie und Ökonomik an der Frankfurt School of Finance and Management. Guten Tag, Herr Kliemt.

Hartmut Kliemt: Guten Tag.

Führer: Was besagt dieses Modell vom Homo oeconomicus genau? Also, welche Annahmen sind damit verbunden?

Kliemt: Also, der Homo oeconomicus ist ein Wesen, das in jedem Augenblick mit Bezug auf die Zukunft rational entscheidet. Und das heißt, der berechnet die Folgen seines Handelns in jedem Einzelfall. Nehmen Sie an, Sie wollen abnehmen: Sie legen typischerweise in ihren Eisschrank diese köstlichen Dinge wie Jogurt und Schlangengurken und weiß der Teufel, und daneben könnten Sie ja eigentlich auch Sahnetorte lagern, wenn Sie völlig rational wären. Denn Sie würden dann in jedem Augenblick das tun, was für Sie gut ist. Und wenn es mal besser ist, Jogurt zu essen, dann würden Sie Jogurt essen, und wenn es besser ist, Sahnetorte zu essen, würden Sie Sahnetorte essen. Das tun Sie aber nicht, weil Sie das Gefühl haben, dass Sie mit Bezug auf Ihre langfristigen Interessen wahrscheinlich nicht rational agieren werden. Der Homo oeconomicus hat dieses Problem grundsätzlich nicht. Der klassische Homo oeconomicus handelt in jedem Augenblick eben mit Bezug auf die gesamte Zukunft rational und entscheidet in dem Moment immer nach der besseren Aussicht.

Führer: Dieses Modell vom Homo oeconomicus, würde ich ja denken, gut, das ist sinnvoll, wenn es jetzt um die Frage geht: Welches Auto kaufe ich oder welchen Kühlschrank? Ja, also, was gebe ich heute aus, wie viel Strom verbraucht der, und rentiert sich das dann in fünf Jahren? Der teurere Kühlschrank verbraucht eben weniger Strom zum Beispiel. Aber das Modell wird ja auf alle Lebensbereiche angewandt. Also, auf die Partnerwahl, aufs Kinderkriegen, auf die Religion, die Kriminalität. Also, man wird zum Dieb aus ökonomischen Erwägungen oder man entscheidet sich für Kinder auch aus rein ökonomischen Erwägungen. Und da wird mir doch ein bisschen gruselig.

Kliemt: Das moderne Homo-oeconomicus-Modell würde beliebige Interessen und Präferenzen zulassen. Und dann wäre es eben auch so, das Sie irgendwelche idealistischen Motive auch rational verfolgen würden. Also, ich würde ja auch hoffen, dass zum Beispiel eine von mir durchaus geschätzte und bevorzugte Organisation wie Amnesty International Mitglieder hat, die aus nicht unbedingt ökonomischen Gründen für sich selbst, der Einkommenserzielung tätig werden, dass sie das, was sie da tun, aber rational machen.

Führer: Der Philosoph und Ökonom Hartmut Kliemt im Deutschlandradio Kultur. Aber so richtig verstehe ich das nicht, Herr Kliemt. Denn wir wissen doch nun alle, dass der Mensch keineswegs immer rational und zu seinem eigenen Nutzen handelt – also, man denke nur an die verlockende Sahnetorte im Kühlschrank – und häufig genug ja einfach von Gefühlen geleitet wird, von falschen Annahmen, Aberglauben, was weiß ich, von Gerüchen, vom Aussehen des Gegenübers! Also, eigentlich gibt es den Homo oeconomicus doch gar nicht, das Modell entspricht doch keineswegs der Wirklichkeit.

Kliemt: Sie würden eben auch, wenn der eine falsche Glaubensüberzeugung hat, darüber, wie die Welt verläuft, dann würden Sie die auch erst mal in den Homo oeconomicus hinausnehmen können, in dessen Entscheidungen. Wenn der glaubt, dass man dadurch, dass man Sahnetorte isst, eben abnimmt, dann ist der rational, relativ auf seine Glaubensüberzeugungen und all seine Ziele.

Führer: Aber ich glaube, das tut doch niemand. Man isst doch dann die Sahnetorte, weil man eben die Sahnetorte unbedingt jetzt gerade essen will, weil man so einen Heißhunger hat.

Kliemt: Ja, klar. Aber was ich gerade zum Ausdruck bringen will, ist: Sie können das Homo-oeconomicus-Modell so inhaltsleer machen, dass Sie immer Recht haben. Deswegen auch diese Sache mit dem langfristigen und dem kurzfristigen Interesse: Wenn Sie sagen, der handelt rational mit Bezug auf seine langfristigen Interessen, dann ist er wahrscheinlich völlig verfehlt und dann stimmt das, was Sie sagen, dann handelt er nach Gefühlen und so weiter. Aber was er kurzfristig tut, können Sie immer in diese Modellierung reinbauen. Sie müssen eben nur wissen, was er will.

Führer: Aber wenn das Modell immer dann recht hat, wenn es inhaltsleer ist, dann ist es doch sinnlos?

Kliemt: Das kommt eben darauf an. Relativ zu dem, was Sie da reinpacken, hat es dann Inhalt. Sie müssen dann eben nur wissen, welche Ziele und welche Überzeugungen dieses Individuum in dem Moment hat. Aber es stimmt, Sie können eigentlich alles und jedes in dieses Modell reinpacken, und insofern schließt es nichts über die Welt aus. Trotzdem, insbesondere in der Spieltheorie: Wenn Sie das Homo-oeconomicus-Modell zu Ende denken, dann lernen Sie eben etwas darüber, was möglich ist in sozialen Interaktionen. Also, wenn die anderen Menschen auch schlau sind und Sie sind schlau und Sie denken darüber nach, was die wohl tun, und wenn die ihre Ziele rational verfolgen und Sie nehmen an, Sie verfolgen Ihre Ziele rational, was passiert denn dann eigentlich? Und das können Sie eben herausbekommen, wenn Sie dieses Homo-oeconomicus-Modell streng zu Ende denken.

Dann gebe ich mal ein Beispiel dafür, wie man das Homo-oeconomicus-Modell versucht hat zu widerlegen. Das ist das "Ultimatum-Spiel" und das geht so: Sie geben einem Proposer, wird der genannt in der Literatur, also einem Aufteiler, zehn Euro. Können auch 100 nehmen, jetzt nehmen wir mal zehn. Und die kann der, die hat er in Euro-Stücken vor sich liegen und die kann er beliebig aufteilen zwischen sich und einem Empfänger. Und der Empfänger kriegt das, was er vom Aufteiler zugeteilt erhielt, wenn der Empfänger Ja sagt, ich nehme das Angebot an. Deswegen heißt das "Ultimatum", er nimmt das Ultimatum an. Wenn er bei der Aufteilung zum Beispiel einen Euro bekommt und der Verteiler nimmt eben neun für sich, der ist also gierig, dann kann der Responder, also der Empfänger sagen, nein, das nehme ich nicht an. Und dann kriegen beide nichts. Aber das tut er natürlich um einen Euro Kosten, er opfert einen Euro, der Empfänger. Wenn er jetzt völlig rational wäre und nur seinen materiellen Nutzen, wie das klassische Modell das annimmt, maximieren würde, dann müsste er ja Ja sagen. Es hängt für die Zukunft nichts ab, die kennen sich nicht, die treffen sich nie wieder, die beiden, und so weiter.

Führer: Tut er aber nicht, weil er das eben ungerecht und unverschämt findet.

Kliemt: Ganz genau, wunderbar. Und da sieht man, dass die Menschen sich eben ihre moralischen Überzeugungen etwas kosten lassen. Und jetzt hat man Folgendes gemacht: Man hat die Versuchsteilnehmer in eine Situation gebracht, wo eine Gruppe von Empfängern eine ganz langweilige Rechenaufgabe lösen musste, zehn Minuten, und dann durften die Nein oder Ja sagen. Und die andere Gruppe musste sofort reagieren. Bei der Gruppe, die sofort reagieren musste, stellte man fest, dass die üblichen Ergebnisse auftreten: Kleine Angebote werden fast immer abgelehnt, Fifty-fifty wird fast immer angenommen und so weiter, und es wird auch am meisten angeboten. Bei der anderen Gruppe, wo die Leute eben Zeit hatten, sich abzukühlen, also nicht mehr emotional reagierten, bevor sie antworteten, fand man fast nur noch das vollkommen rationale Verhalten. Die nahmen also auch kleine Angebote an. Und das deutet darauf hin, dass bei kühler und rationaler Überlegung die Menschen doch relativ stark in die Richtung des Homo-oeconomicus-Modells tendieren.

Führer: Das klingt dann wieder sehr rational. Einen anderen Ansatz verfolgt ja Frank Schirrmacher, dessen Buch "Ego" ist gerade erschienen, wir hatten ihn am Montag auch hier zu Gast im "Radiofeuilleton", und der dreht ja den Spieß nun um: Der sagt, in unserem Informationskapitalismus wird eben das Modell vom Homo oeconomicus, der immer rational handelt und auf seinen eigenen Gewinn bedacht ist, dieses Modell wird unterstellt, und das Neue ist eben, dass damit auch die Wirklichkeit sich diesem Modell anpasst, weil wir eben durch diese digitale Welt sozusagen gezwungen werden, uns so zu verhalten, wie die Algorithmen es uns vorschreiben.

Kliemt: Ich glaube, dass in der ganzen Diskussion – und Herr Schirrmacher ist da ja nur ein Baustein in einer amerikanischen, großen Diskussion um die Frage, was man für Geld überhaupt kaufen darf und so weiter –, in dieser ganzen Diskussion geht es meines Erachtens überhaupt nicht um den Homo oeconomicus, sondern es geht darum, ob man anerkennen will, welche freien Übereinkünfte Menschen treffen. Sollen die einfach autonom sein und miteinander verabreden können, was immer sie wollen, und dann das vielleicht auch im rationalen Eigeninteresse tun können? Und dann wird man eben hinnehmen müssen, dass für alle möglichen Dinge Geld bezahlt wird.

Dann kommt es zu solchen Rationalisierungen wie der, dass man Leute dafür bezahlen kann, Schlange zu stehen, und dann hinterher den Platz in der Schlange übernimmt und all solche Dinge. Und das ist alles dokumentiert, das gibt es alles. Dann ist man in einer monetarisierten, durchrationalisierten Welt und wir finden das irgendwie nicht schön. Aber eigentlich, ich sage es noch mal, geht es gar nicht um diese Frage. Was geht mich das an, wenn ein anderer irgendwas für Geld tut? Es geht um die Frage, ob wir bereit sind, anzuerkennen, dass die anderen freie Verträge schließen über Dinge, die uns vielleicht nicht gefallen. Und wenn man das so sieht, dann muss man, glaube ich, ein bisschen vorsichtiger an diese ganze Diskussion, dass die höheren Motive durch banale und profane, monetäre Motive auch ausgetrieben würden, rangehen.

Das eigentliche Problem scheint mir eben eher zu sein: Respektieren wir, wie Menschen auf diese Anreizsysteme reagieren, oder wollen wir das nicht akzeptieren? Ich meine, sollen wir denen denn jetzt irrationale Anreizsysteme setzen? Also, wir wollen doch in einer Welt leben, in der die Menschen einigermaßen vertraut sind mit dem, was da kommt, und wie sollen sie das einschätzen können, wenn es nicht einigermaßen rationale Strukturen sind? Ich versuche, meinen Studenten immer beizubringen, dass eines der wichtigsten Ziele bei moralischen Orientierungen ist, dass sie sich auch für uns am Ende auszahlen müssen. Die würden sich nicht mehr lohnen, wenn es nicht indirekt so wäre, dass eben Ehrlichkeit sich auszahlt oder so, ja, verstehen Sie? Und an der Stelle, glaube ich, sind wir alle an einem Homo-oeconomicus-Modell interessiert, wir wollen, dass die – in Anführungsstrichen – Guten langfristig von ihrer moralischen Qualität einen Vorteil haben, durchaus auch einen materiellen, und wir wollen, dass diejenigen, die das moralisch abzulehnende Verhalten zeigen, davon eher einen Nachteil haben. Und an der Stelle, glaube ich, müssen wir alle mit dem Homo-oeconomicus-Modell indirekt arbeiten.

Führer: Das sagt Hartmut Kliemt, er ist Professor für Philosophie und Ökonomik an der Frankfurt School of Finance and Management. Ich danke Ihnen fürs Gespräch, Herr Kliemt.

Kliemt: Vielen Dank auch.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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