Anekdoten statt Autobiografisches

26.08.2008
Die Box, von der Günter Grass in seinem gleichnamigen Buch schreibt, ist eine Fotokamera, die Wünsche der Abgelichteten offenlegt. Grass lässt seine acht Kinder über die Fotografin und die Fotografien erzählen, so dass eine Art vielstimmige Autobiografie entstehen könnte. Doch Grass scheut das Risiko und täuscht das Autobiographische nur vor. So ist aus einem schönen erzählerischen Ansatz ein überflüssiges, geschwätziges, langweiliges Buch geworden.
So eine Agfa-Box braucht man wohl als Dichter. Das Wunderding ersetzt Phantasie und Recherche. Die Fotos, die diese Zauberbox macht, bilden nicht einfach die Wirklichkeit ab, sondern die Wünsche der Menschen, die darauf zu sehen sind, ihre Ängste, ihre Träume, ihre Möglichkeiten. Das Vergangene kann sie ebenso sichtbar machen wie das Zukünftige.

Günter Grass erfindet sich so ein Ding, um seine Autobiographie fortzuschreiben. Die Box gehört einer verwitweten Frau, die das Fotografenhandwerk von ihrem Mann übernommen hat und die wie ein guter Geist die "zusammengestückelte Familie" Grass durch die Jahrzehnte begleitet.

Marie oder vielmehr "Mariechen" ist Zauberfee und Muse in einer Person. Sie wirkt ein wenig hexenhaft, wenn sie in der Dunkelkammer werkelt und mit überraschungsreichen Bildern wieder auftaucht. Den Kindern illustriert sie ihre heimlichen Wünsche. Dem Vater Günter Grass ist sie eine Dienerin, die Fiktionen ebenso wie historische Fakten zu liefern vermag.

Ihre Bilder haben nur einen Nachteil: Sie verblassen rasch, und keiner weiß, was aus ihnen geworden ist. Man kann in ihnen also nicht blättern wie in einem Familienalbum, sondern muss sie aus dem Gedächtnis rekonstruieren. Unter diesen Voraussetzungen versammelt Grass in seinen "Dunkelkammergeschichten" die acht Kinder seiner vier Frauen, die allerdings im Buch andere Namen erhalten. Kapitelweise sitzen sie reihum an den Küchentischen bei Linsensuppen und Gulaschgerichten zusammen, um ihre Erinnerungen an Marie und ihre Bilder, an ihre Kindheit und an ihren Vater in ein Mikrofon zu sprechen.

Das ist eine durchaus gelungene Erzählweise. Im Chor der Stimmen fallen sich die Einzelnen ins Wort. Sie ergänzen und widersprechen einander, sie behaupten und weisen zurück. So entsteht Geschichte aus der Vielfalt der Stimmen und Geschichten: nichts Wahres, sondern allenfalls perspektivabhängige Versionen.

Doch leider macht Grass daraus nicht viel. In jedem Kapitel ist es dann doch er selbst, der als unsichtbarer Dirigent das letzte Wort hat und der sich erklärtermaßen erlaubt, zu mildern und zuzuspitzen und manches auch zu streichen. Dass die Kinder da "ohne sich oder gar ihn zu schonen" sprechen würden, ist nicht mehr als eine fromme Behauptung. An Harmlosigkeit ist dieses Buch kaum zu überbieten. Die unausgesprochene Maxime scheint vielmehr zu sein, sich bloß nicht weh zu tun und an nichts zur rühren, was irgendwie problematisch sein könnte.

So bleibt alles im Bereich anekdotischer Nettigkeit. Eine Tochter erzählt von ihrem Hund, der auf Mariechens Fotos mit der U-Bahn durch Berlin fuhr und allein umsteigen konnte. Ein Sohn erinnert sich an seine Zeit als Bauchladen-Knopf-Verkäufer auf dem Kurfürstendamm. Die verschiedenen Frauen des Vaters treten auf und treten ab, so ist das nun mal, mit der Liebe, sie kommt und geht. Was einst - auch für die Kinder - schrecklich gewesen sein mag, ist nur noch ein versöhnliches Schmunzeln wert.

Grass spart alles Öffentliche aus, ja, er spart sich selbst aus, indem er um sich herum einen Kokon von Kinder-Erinnerungen errichtet. Man erfährt zwar, dass er Wahlkampf für Willy Brandt gemacht hat, doch aus der Perspektive eines Sohnes bleibt davon nur seine längere Abwesenheit übrig und das kindliche Missverständnis, ihn als "Walkämpfer" auf einem Walfangboot zu imaginieren.

Buch um Buch schreibt der Vater in seiner Werkstatt, auch wenn die undankbaren "Zeitungsfritzen" hartnäckig an ihm herumnörgeln. Auf dem Umweg über die Kinder spricht Grass über sich selbst so:

"Weiß wirklich nicht, wissen wir alle nicht, wie er das jedes Mal hingekriegt hat: ein Bestseller nach dem anderen, gleich was die Zeitungsfritzen drüber zu meckern hatten".

Solche indirekten Streicheleinheiten für sich selbst überschreiten die Grenze des Peinlichen. "Die Box" zu lesen ist etwa so, als säße man als Gast im Wohnzimmer fremder Leute und werde sofort mit Urlaubsbildern und Privatheiten traktiert, von denen man eigentlich nichts wissen wollte. Doch aus Höflichkeit heuchelt man Interesse und schaut heimlich auf die Uhr.

Grass scheut das Risiko und täuscht das Autobiographische nur vor. Von ihm selbst, von seinen Konflikten, erotischen Verwirrungen, Schreibschwierigkeiten, politischen Zweifeln und ästhetischen Problemen erfährt man so gut wie nichts. Mag sein, dass es keine gab. Uwe Johnson taucht einmal kurz auf und sitzt mit seiner Pfeife als namenloser Gast herum. Hitlerjugend und Krieg verschwinden im Halbdunkel des Ungefähren, und wenn eine Tochter dem alten Vater vorwirft: "War reichlich spät, dass er rausrückte damit", dann meint sie nicht dessen spätes Bekenntnis, zur Waffen-SS eingezogen worden zu sein, sondern dessen langes Schweigen über ein uneheliches Töchterchen, von dem sie gerne früher erfahren hätte.

Gegen Ende sprechen die Kinder dann sogar einmal kurz über einen Boykott gegen den Alten, der ihnen "Wörter in den Mund legt", die absolut nicht die ihren seien. Aber daraus wird nichts. Wahrscheinlich hat der Alte das gestrichen. Schade. So ist aus einem schönen erzählerischen Ansatz ein überflüssiges, geschwätziges, langweiliges Buch geworden. Dass Grass beim Schreiben seine Freude hatte, ist zu spüren. Doch Selbstbeglückungen und freundlich erfundene Familienfotoalben taugen nicht unbedingt für die Öffentlichkeit.

Rezensiert von Jörg Magenau

Günter Grass: Die Box. Dunkelkammergeschichten
Steidl Verlag, Göttingen 2008
218 Seiten, 18 Euro