Anekdoten aus der Reggae-Urzeit
Musiker wie Seeed, Patrice, Ganjaman &Co und Gentleman bekommen in diesem Buch viel Raum. Ansonsten geht es in "Reggae in Deutschland" vor allem darum, wie sich im Lande der Gartenzwerge, Heinos und Metal Bands ein Beat durchsetzen konnte, der so gar nicht zu uns zu passen scheint.
Einer musste es irgendwann tun. Und nun haben zwei die Last übernommen, herauszufinden, wie das ist mit dem Reggae in Deutschland. Last deshalb, weil heftige, ja hysterische oder von mir aus auch explosiv-emotionale Reaktionen auf kulturelle Phänomene, die ihren Konsumenten viele Möglichkeiten zur Identitätsstiftung und Dissidenz bieten, es dem Chronisten ungemein erschweren, den Nebel aus Mythen und Falschmeldungen zu lichten. Und die Geschichte der deutschen Reggae-Rezeption und Produktion, die begann, als wir noch in Gebilden namens BRD und DDR hockten, ist eine Geschichte von Mythen, Lügen und Missverständnissen.
Sich dieser in weiten Teilen unsäglichen, mitunter aber auch heiteren Geschichte zu stellen, sich durch den Schlamm der Siebziger zu graben, den Muff der Achtziger noch einmal zu atmen, erfordert Kraft und Mut. Über beides verfügen Olaf Karnik und Helmut Philipps, die jetzt dieses Buch vorlegen, für das die Zeit nun tatsächlich reif ist.
Karnik und Philipps sind alte Fahrensmänner, haben fast jeden Moment der hiesigen Reggae-Entwicklung verfolgt bzw. verfügen im Falle Philipps über tief reichende Kontakte in die deutsche Entertainment-Szene, um eine ganze Reihe hanebüchen komischer Anekdoten aus der Reggae-Urzeit zum Besten zu geben. Dort setzt das Buch auch an, in dem es nicht darum gehen soll, enzyklopädisch aufzuzählen, wer wann was gemacht hat, sondern in dem exemplarisch nachgespürt wird, wie es dazu kommen konnte, dass, über entsetzlich lange Umwege und durch wirre Labyrinthe hindurch, ein Mann wie der Kölner Tilmann Otto, genannt Gentleman, in Jamaika zum Star wird, eine Band wie die Berliner Gruppe Seeed live Zigtausende in Freiluftarenen zieht und überhaupt im Lande der Gartenzwerge, Heinos, Metal Bands und Dumpf-Technoiden ein Beat sich durchsetzen konnte, der so gar nicht zu uns zu passen scheint.
In 15 Kapitel haben die Autoren den deutschen Reggae-Kuchen geschnitten. Musiker wie Seeed, Patrice, Ganjaman &Co und Gentleman bekommen natürlich viel Raum. Aber auch in die mythenumwobene Welt des Berliner Rhythm & Sound Labors wird eingedrungen. Die Soundsystems kommen zu Wort, die Plattenverkäufer und Plattenproduzenten und schließlich auch die, die darüber schreiben: die Chefs der international beachteten deutschen Reggae-Fachzeitschrift "Riddim" bekommen ein eigenes Kapitel.
Philipps und Karnik lösen das Problem, die vielen Sichtweisen einer inzwischen extrem heterogen gewordenen Szene, ihre ungemein schillernden Charaktere unter einen Hut zu bekommen, indem sie formale Vielfalt zulassen. Roundtable und individuelle Interviews wechseln mit knappen Reportagen und ausufernden Essays. Munter springen sie zwischen den Zeitebenen hin und her, was dem Leser Langeweile erspart, die in chronologischen erzählten Fachbüchern nur zu schnell droht. Und auch wenn sich die beiden mit Ausnahme der Einleitung dafür entschieden, nicht gemeinsam, sondern solo zu schreiben (jedes Kapitel ist mit dem Namen des jeweiligen Autoren gekennzeichnet), liest sich das Ganze sehr rund.
Herausragend und herauszuheben ist allerdings Philipps’ langer Rückblick in die frühen Tage karibischer Musik in Deutschland. Von ersten Nennungen der "Jamaikafrau´n" bei Schlagersängerin Bibi Jones 1954 über das "One Hit Fräuleinwunder" Milli Small und ihr Gastspiel auf der Hamburger Reeperbahn 1964, die bizarren Reggae-Antizipationsversuche um 1970 herum, als selbst die Bild-Zeitung per Reggae-Sampler warb, bis zu den ideologisch gefärbten und später von Drogen vernebelten Fehlinterpretationen der späten 70er Jahre faltet Philipps hier ein Panoptikum des Irrwitzes auf, das einfach gelesen werden muss! Wer das tut, wird u.a. endlich verstanden haben, warum bei uns Reggae noch immer mit Sunshine und Roots mit Revolution gleichgesetzt werden.
Erstaunlich gut gelang Philipps und Karnik beim Schreiben die Balance zwischen einer In-group-Terminologie und einer auch für Nichtkenner nachzuvollziehenden Sprache. Fußnoten und ein Glossar beantworten eventuelle Fragen für Einsteiger. Ein Register fehlt leider. Faktische Fehler (die Berliner Open-Air-Bühnen Waldbühne und Wuhlheide werden verwechselt), die hin und wieder aufblitzen, dürften einem wahrscheinlich nicht existenten Lektorat geschuldet sein und sind letztlich nur milde ärgerlich. Kritik an den aktuellen Protagonisten des deutschen Reggae findet übrigens nicht statt. Was mir zunächst als Schwachpunkt erschien, hat am Ende dann aber doch Sinn: Philipps und Karnik lassen die Macher so genau dokumentiert sprechen, dass jeder Leser sich ein eigenes Bild schaffen kann.
Rezensiert von Andreas Müller
Olaf Karnik, Helmut Philipps
Reggae in Deutschland
Kiepenheuer & Witsch 2007, 256 S.
8,95 Euro
Sich dieser in weiten Teilen unsäglichen, mitunter aber auch heiteren Geschichte zu stellen, sich durch den Schlamm der Siebziger zu graben, den Muff der Achtziger noch einmal zu atmen, erfordert Kraft und Mut. Über beides verfügen Olaf Karnik und Helmut Philipps, die jetzt dieses Buch vorlegen, für das die Zeit nun tatsächlich reif ist.
Karnik und Philipps sind alte Fahrensmänner, haben fast jeden Moment der hiesigen Reggae-Entwicklung verfolgt bzw. verfügen im Falle Philipps über tief reichende Kontakte in die deutsche Entertainment-Szene, um eine ganze Reihe hanebüchen komischer Anekdoten aus der Reggae-Urzeit zum Besten zu geben. Dort setzt das Buch auch an, in dem es nicht darum gehen soll, enzyklopädisch aufzuzählen, wer wann was gemacht hat, sondern in dem exemplarisch nachgespürt wird, wie es dazu kommen konnte, dass, über entsetzlich lange Umwege und durch wirre Labyrinthe hindurch, ein Mann wie der Kölner Tilmann Otto, genannt Gentleman, in Jamaika zum Star wird, eine Band wie die Berliner Gruppe Seeed live Zigtausende in Freiluftarenen zieht und überhaupt im Lande der Gartenzwerge, Heinos, Metal Bands und Dumpf-Technoiden ein Beat sich durchsetzen konnte, der so gar nicht zu uns zu passen scheint.
In 15 Kapitel haben die Autoren den deutschen Reggae-Kuchen geschnitten. Musiker wie Seeed, Patrice, Ganjaman &Co und Gentleman bekommen natürlich viel Raum. Aber auch in die mythenumwobene Welt des Berliner Rhythm & Sound Labors wird eingedrungen. Die Soundsystems kommen zu Wort, die Plattenverkäufer und Plattenproduzenten und schließlich auch die, die darüber schreiben: die Chefs der international beachteten deutschen Reggae-Fachzeitschrift "Riddim" bekommen ein eigenes Kapitel.
Philipps und Karnik lösen das Problem, die vielen Sichtweisen einer inzwischen extrem heterogen gewordenen Szene, ihre ungemein schillernden Charaktere unter einen Hut zu bekommen, indem sie formale Vielfalt zulassen. Roundtable und individuelle Interviews wechseln mit knappen Reportagen und ausufernden Essays. Munter springen sie zwischen den Zeitebenen hin und her, was dem Leser Langeweile erspart, die in chronologischen erzählten Fachbüchern nur zu schnell droht. Und auch wenn sich die beiden mit Ausnahme der Einleitung dafür entschieden, nicht gemeinsam, sondern solo zu schreiben (jedes Kapitel ist mit dem Namen des jeweiligen Autoren gekennzeichnet), liest sich das Ganze sehr rund.
Herausragend und herauszuheben ist allerdings Philipps’ langer Rückblick in die frühen Tage karibischer Musik in Deutschland. Von ersten Nennungen der "Jamaikafrau´n" bei Schlagersängerin Bibi Jones 1954 über das "One Hit Fräuleinwunder" Milli Small und ihr Gastspiel auf der Hamburger Reeperbahn 1964, die bizarren Reggae-Antizipationsversuche um 1970 herum, als selbst die Bild-Zeitung per Reggae-Sampler warb, bis zu den ideologisch gefärbten und später von Drogen vernebelten Fehlinterpretationen der späten 70er Jahre faltet Philipps hier ein Panoptikum des Irrwitzes auf, das einfach gelesen werden muss! Wer das tut, wird u.a. endlich verstanden haben, warum bei uns Reggae noch immer mit Sunshine und Roots mit Revolution gleichgesetzt werden.
Erstaunlich gut gelang Philipps und Karnik beim Schreiben die Balance zwischen einer In-group-Terminologie und einer auch für Nichtkenner nachzuvollziehenden Sprache. Fußnoten und ein Glossar beantworten eventuelle Fragen für Einsteiger. Ein Register fehlt leider. Faktische Fehler (die Berliner Open-Air-Bühnen Waldbühne und Wuhlheide werden verwechselt), die hin und wieder aufblitzen, dürften einem wahrscheinlich nicht existenten Lektorat geschuldet sein und sind letztlich nur milde ärgerlich. Kritik an den aktuellen Protagonisten des deutschen Reggae findet übrigens nicht statt. Was mir zunächst als Schwachpunkt erschien, hat am Ende dann aber doch Sinn: Philipps und Karnik lassen die Macher so genau dokumentiert sprechen, dass jeder Leser sich ein eigenes Bild schaffen kann.
Rezensiert von Andreas Müller
Olaf Karnik, Helmut Philipps
Reggae in Deutschland
Kiepenheuer & Witsch 2007, 256 S.
8,95 Euro