Andreas Westerfellhaus

"Die Situation in der Pflege wird immer dramatischer"

Andreas Westerfellhaus zu Gast bei Deutschlandradio Kultur
Andreas Westerfellhaus zu Gast bei Deutschlandradio Kultur © Foto: Jan Lütkestratkötter
Andreas Westerfellhaus im Gespräch mit Martin Steinhage · 22.08.2015
Der Präsident des Deutschen Pflegerats beklagt die Situation in Krankenhäusern und Altenheimen: In der ambulanten Pflege habe die Belastung der Pflegerinnen und Pfleger immer weiter zugenommen, sagt Andreas Westerfellhaus.
Deutschlandradio Kultur: Zu Gast in dieser Ausgabe von Tacheles ist Andreas Westerfellhaus, der Präsident des Deutschen Pflegerats, eines Dachverbands, der die Belange von deutlich über einer beruflich Pflegenden und Hebammen vertritt. – Ich grüße Sie, Herr Westerfellhaus, hallo.
Andreas Westerfellhaus: Guten Tag, Herr Steinhage.
Deutschlandradio Kultur: Reden wollen wir natürlich über das Thema Pflege und beginnen möchte ich mit der jüngsten Pflegereform, die vergangene Woche vom Bundeskabinett gebilligt wurde. In aller Kürze: Worum geht es da? Kern der Reform ist ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff. Künftig steht die Frage im Mittelpunkt: Wie sehr ist die Selbständigkeit eines Menschen eingeschränkt und was kann er selbst noch leisten? Das heißt, anders als bisher sollen allein körperliche Beeinträchtigungen sowie der Zeitaufwand bei der Pflege nicht mehr die Hauptkriterien bei der Einstufung sein. Davon werden vor allem auch, aber nicht nur, Demenzkranke profitieren, die bislang sehr stiefmütterlich von der Pflegeversicherung behandelt wurden.
Herr Westerfellhaus, wenn wir zunächst einmal auf die rund 2,6 Millionen Menschen schauen, die schon heute aus der Pflegeversicherung Leistungen erhalten, ist dieses sogenannte Zweite Pflegestärkungsgesetz eine gelungene Reform?
Andreas Westerfellhaus: Ich denke, vom Prinzip kann man das mit Ja beantworten. Es ist der richtige Ansatz. Wie Sie ja schon betont haben, ist dieser Paradigmenwechsel – weg von einer Defizitorientierung hin zu einer Ressourcenorientierung, was kann der Mensch, wie kann ich ihn begleiten, wie kann ich ihn unterstützen, wie kann ich ihn fördern, um seine Gesundheit zu erhalten oder auch zu verbessern, weitere Pflegebedürftigkeit zu verhindern – genau der richtige Ansatz.
Deutschlandradio Kultur: Künftig soll es ja nicht mehr drei Pflegestufen geben, sondern fünf Pflegegrade. Damit will man wesentlich differenzierter, als das heute der Fall ist, beurteilen, wer Anspruch auf welche Unterstützung aus der Pflegeversicherung hat.
Teilen Sie die Einschätzung, dass diese neue Systematik für alle Pflegefälle, nicht nur für Demenzkranke, einen Quantensprung bedeutet?
Andreas Westerfellhaus: Auch da würde ich sagen: vom Prinzip ja. Spannend wird es natürlich jetzt sein, wie die Übergangsphase gestaltet wird. Wie gelingt es, die bisherigen Einstufungen umzusetzen, weiterzuleiten und weiter fortzuführen, und mit welcher Intensität und Sorgfalt letztendlich auch die Assessments durchgeführt werden? Ich glaube, das ist ein neuer Prozess, in den man hier einsteigt. Denn es bedeutet ja nicht nur ein Assessment zu Beginn des Feststellens, sondern eine kontinuierliche Begleitung und Beobachtung.
Deutschlandradio Kultur: Fest steht ja wohl, das hat Minister Gröhe bei der Vorstellung betont, niemand soll schlechter gestellt werden als bisher bei der Umstellung von Pflegestufen auf Pflegegrade.
Wer profitiert denn eigentlich noch? Werden zum Beispiel auch pflegende Angehörige durch die Reform besser gestellt und damit viele Hunderttausend Menschen, die sich hierzulande tagein, tagaus um Mutter oder Vater, um den Bruder oder um die Tante kümmern?
Andreas Westerfellhaus: Sie müssen ja sehen, dass neben der Einstufung natürlich Leistungen verbunden sein sollen, die dann erbracht werden - allerdings auch ein anderer Ansatz, der durch die Unterstützung professioneller Pflegeleistungen dann erbracht werden soll. Wie gesagt, es geht ja nicht einfach mehr darum zu akzeptieren, ist mein Vater, meine Mutter in einer Pflegestufe 2 und ich muss mich damit abfinden, sondern es geht darum, wirklich sorgfältig zu analysieren, wo ist der zukünftige Bedarf der Unterstützung. Und welche Möglichkeiten gibt's zum Beispiel auch für rehabilitative Ansätze?
Deutschlandradio Kultur: Und weil das alles sehr kompliziert ist, wird es ja auch bis 2017 dauern, bis das alles umgestellt ist und dann tatsächlich diese zweite Reformstufe dann greift.
Vielleicht ein kurzer Einschub, Herr Westerfellhaus: Es wird ja von manchen auch jetzt wieder beklagt, dass durch die jüngste Pflegereform in zwei Schritten der Beitrag zur Pflegeversicherung um insgesamt 0,5 Prozent steigen wird und damit um ein Viertel höher liegen wird gegenüber 2014 und den Jahren davor. – Haben Sie Verständnis für diese Kritik?
Andreas Westerfellhaus: Nein, vom Prinzip her nicht. Ich möchte auch eins vorweg sagen. Es gibt genauso viele Stimmen, die mir jedenfalls berichten, dass gerade diese Erhöhung ziemlich widerspruchslos aufgenommen worden ist, weil man sich mit der Thematik Pflege- und Pflegebedürftigkeit anders auseinandergesetzt hat – so führt zumindest immer der Patienten- und Pflegebeauftragte dies dann auch aus.
Ich glaube, wir müssen in einer Gesellschaft, in der man damit konfrontiert wird, immer mehr Menschen vorzufinden, die eine Pflegebedürftigkeit haben, diese Unterstützung benötigen, auch die Frage beantworten: Was ist uns das wert und wie wollen wir das finanzieren? – Spätestens derjenige, der in dieser Situation ist und betroffen, der hat dafür eine hohe Aufmerksamkeit und Bereitschaft.
Deutschlandradio Kultur: Glauben Sie denn - habe ich Sie richtig verstanden -, dass in der Gesellschaft inzwischen angekommen ist, dass uns das wirklich auch was wert sein muss und 2,5 oder 2,8 Prozent dann wirklich nicht so dramatisch sind?
Andreas Westerfellhaus: Zumindest sehe ich die Zeichen so. Ob das durchgängig so ist, es ist ja immer die Frage, inwieweit sich die Menschen überhaupt mit der Fragestellung Pflegebedürftigkeit beschäftigen.
Deutschlandradio Kultur: Meistens erst, wenn es passiert.
Andreas Westerfellhaus: Genau. Es ist ja eher ein Thema, wo man dazu neigt, es zu verdrängen – „am Ende des Lebens irgendwann mal". Von daher ist diese Aussage vielleicht nicht ganz repräsentativ, aber ich glaube, bezogen auf die Menschen, die wissen, was das bedeutet, gibt es eine hohe Akzeptanz, dafür auch mehr Geld zur Verfügung zu stellen.
Deutschlandradio Kultur: Ich habe es schon kurz erwähnt, Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe betont, dass bei der Umstellung von Pflegestufen auf Pflegegrade niemand schlechter gestellt werden soll. Vielmehr werde es so sein, sagte der Christdemokrat, dass etwa 500.000 Menschen zusätzlich Anspruch auf Leistungen aus der Pflegeversicherung haben werden. Viele dieser neuen Pflegeversicherungs-Kunden werden dann natürlich auf einen Altenpfleger bzw. eine Altenpflegerin angewiesen sein, sei es im Heim, sei es ambulant in den eigenen vier Wänden.
Mal ganz naiv gefragt: Gibt es denn genügend qualifiziertes Personal, um diesen Mehraufwand abzudecken?
Andreas Westerfellhaus: Herr Steinhage, das ist natürlich genau das große Problem. Und das ist letztendlich auch jetzt der Kritikpunkt an der Pflegereform, wo es mir obliegt, das auch besonders zu betonen.
Man muss sich darüber im Klaren sein bei diesen wirklich guten Ansätzen dieser Reform, dass das, was dort an die Berufsgruppe gerichtet ist - die im Übrigen geschlossen, würde ich sagen, auch hinter dieser Pflegereform steht, was die inhaltliche Ausgestaltung angeht, nämlich ressourcenorientiert arbeiten zu können -, dass die Frage nicht beantwortet wird: Mit wem wollen wir diese intensive Leistung letztendlich erbringen?
Wenn ich dann dort einen Vorwurf laut werden lassen muss, dann ist es der, dass man sich nicht gleichzeitig damit beschäftig: Wie wollen wir eigentlich in der Zukunft mit dem sowieso schon bestehenden Fachkräftemangel umgehen? Und wer bitte soll diese Leistungen erbringen? Wenn wir diese Frage aus der Politik nicht beantwortet bekommen, dann ist die Enttäuschung über diese Reform vorprogrammiert.
Deutschlandradio Kultur: Man kann also zugespitzt sagen, die neueste Pflegereform kennt viele Gewinner, aber die Heerscharen an Altenpflegern und an Pflegern insgesamt, die ambulant oder in Heimen arbeiten, die gehen leer aus?
Andreas Westerfellhaus: Leer aus - es wird sicherlich sehr viele Unterschiede geben. Und es wird sicherlich auch aus der Berufsgruppe heraus gute Vorbereitungsmöglichkeiten geben, sich diesen Herausforderungen zu stellen. Aber nochmal: Wenn ich gleichzeitig weiß, dass die Leistungen heute schon nur im Dauerlauf zu erbringen sind und dass für die Leistungen heute schon nicht mehr das genügend qualifizierte Personal zur Verfügung gestellt werden kann, wie soll das mit einer Ausweitung an Leistung denn dann gehen?
Ressourcenorientiert zu arbeiten, zu fordern und zu entwickeln, zuzuhören und zu begleiten professionell, das braucht Zeit. Das ist notwendig. Aber das führt auch zu Ergebnissen. Nur, dafür braucht man das Personal.
Deutschlandradio Kultur: Wenn ich sie recht verstehe, dann sind ja möglicherweise auch die Menschen, die heute pflegebedürftig sind, am Ende dann doch die Verlierer, wenn sich an der sogenannten Minutenpflege im Grunde gar nichts ändern wird?
Andreas Westerfellhaus: Das ist richtig. Weil, dann bleibt es ein Papiertiger. Ich habe das ja auch schon drastischer ausgedrückt. Dann würde eine solche Pflegereform auch einen Flop landen. Wenn ich Menschen erkläre, sie müssen für eine zukünftige Leistung mehr Geld bezahlen über die Pflegeversicherung und sie haben einen Rechtsanspruch darauf, auf eine andere Form von Einstufung und auch auf Leistung - ihnen dann allerdings erklären muss, dass das Personal leider Gottes dafür fehlt, dann ist das aus meiner Sicht eine Bankrotterklärung.
Deutschlandradio Kultur: Vielleicht ein kurzer Einschub: Wenn ich von Altenpflegern und Altenpflegerinnen rede - Sie wissen das, Herr Westerfellhaus, ich sage das für unsere Hörer -, dann muss man auch dran denken, mir ist das auch bewusst, es gibt rund 300.000 Menschen in Deutschland, die sind unter 65 und die sind wegen eines Unfalls oder wegen eines Schlaganfalls auf Pflege angewiesen. Die denken wir jetzt sozusagen immer mit.
Also, das zentrale Dilemma bei der Pflege wird auch diese Reform nicht beheben. Das haben wir eben gehört, Herr Westerfellhaus. Sie haben wiederholt in der Vergangenheit vor einem Kollaps in Heimen und auch in Krankenhäuser, um auch diesen Aspekt hereinzubringen, wegen des Personalmangels gewarnt. – Wie viele Pflegerinnen und Pfleger fehlen eigentlich schon heute?
Andreas Westerfellhaus: Das ist sehr schwer auszumachen, weil, die Zahlen sind sehr widersprüchlich. Wir haben verlässliche Prognosen, auf die wir immer wieder hinweisen, dass wir auch aufgrund der demographischen Entwicklung innerhalb der Berufsgruppe - das heißt, dass die Berufsgruppe natürlich auch in sich älter wird -, dass wir die Herausforderung haben, mehr junge Leute auch für den Beruf zu gewinnen als Schulabgänger, die ja letztendlich auch immer weniger werden. Dann können wir nach wie vor sagen, dass wir jetzt schon in einem erheblichen Mangel sind und dass wir dann auch Hinweise haben, dass bis zum Jahr 2030 insgesamt in der Pflegeversorgung bis zu 500.000 Menschen fehlen.
Deutschlandradio Kultur: Und heute - ist das so eine Hausnummer bei Altenpflegern - ungefähr bei 30.000?
Andreas Westerfellhaus: Das kann man ungefähr sagen.
Deutschlandradio Kultur: Also wegen des demographischen Wandels werden, ich hatte da eine Zahl, vielleicht 200.000 Fachkräfte fehlen. Bertelsmann oder auch Sie sagen, es können auch 500.000 werden. Die Konsequenz kann ja da nur lauten, der Beruf muss attraktiver werden, damit mehr Menschen ihn ergreifen und dann auch dabei bleiben.
Wie macht man denn den Beruf interessanter für junge Leute? Was braucht es da?
Andreas Westerfellhaus: Na ja, wissen Sie, erstmal muss ich nach wie vor sagen, er ist interessant.
Deutschlandradio Kultur: Interessanter.
Andreas Westerfellhaus: Man muss vieles aus den Inhalten des Berufes, glaube ich, viel mehr in die Öffentlichkeit transportieren. Er ist nach wie vor attraktiv. Wir haben ja Untersuchungen in Deutschland, die sagen: 70 Prozent der Berufsangehörigen würden einen Beruf wie diesen Beruf wieder ergreifen. Es müssen sich nur die Rahmenbedingungen ändern. Also muss man eigentlich zwei oder drei verschiedene Wege gehen. Ich muss zunächst erst einmal die Berufsangehörigen, die jetzt im Beruf stehen, halten. Ich muss alles dafür tun, dass diese Menschen nicht in die Teilzeit aussteigen. Dann werden sie aus dem Beruf verschwinden.
Deutschlandradio Kultur: Was sehr viele tun.
Andreas Westerfellhaus: Was sehr viele tun, weil sie einfach sagen, dass sie den tatsächlichen Arbeitsbelastungen, bezogen auf ein Patienten- und Personenverhältnis, also Pflegeverhältnis, nicht mehr gewachsen sind. Sie sagen also, sie können nicht, was selbstverständlich ist, als einzelne Pflegekraft 30 oder 40 Patientinnen und Patienten oder Bewohner versorgen. Das entspricht nicht ihrem Ethos und das entspricht auch nicht ihrem Verantwortungsgefühl. Und dann flüchten sie.
Das heißt, wir brauchen einen ganzen Blumenstrauß an Maßnahmen. Wir brauchen eine attraktive Ausbildung in der Theorie und in der Praxis.
Deutschlandradio Kultur: ...dazu kommen wir noch...
Andreas Westerfellhaus: Dazu kommen wir noch. Wir brauchen Rahmenbedingungen, wir brauchen Zeit. Wissen Sie, wenn meine Kolleginnen und Kollegen gefragt werden, was muss sich als erstes ändern, was wünschen Sie sich, wenn es morgen umzusetzen wäre, dann sagen sie als Allererstes: Mehr Kolleginnen und Kollegen! Sie gehen nicht in erster Linie auf die Straße und sagen, wir wollen zehn Prozent mehr Gehalt, wie andere bekannte Berufsgruppen das zurzeit tun, sondern sie sagen: Wir brauchen mehr Kolleginnen und Kollegen. – Ich glaube, das ist der ganz, ganz große Unterschied. Wenn man das nicht hört und das nicht versteht, dann weiß man nicht, wie groß das Dilemma letztendlich ist.
Deutschlandradio Kultur: Ich habe mir eine sehr anschauliche Zahl notiert, ich denke mal, die stimmt auch: Vor zwölf Jahren besuchte eine ambulante Pflegekraft pro Tag im Schnitt 17 Patienten. Heute sind es schon 25. – Ist das so?
Andreas Westerfellhaus: Das ist so! Und wenn Sie die Besuche sehen, also all das, was man ja zwischendurch ja letztendlich den Patienten auch noch zugute kommen lassen möchte und muss - ich meine, niemand tut dieses gerne, indem er einem Patienten bei einem solchen Besuch sagt, „ich habe aber jetzt keine Zeit für Sie, das muss bis morgen warten", dann macht er es eben vielleicht doch, aber zu Lasten irgendwelcher anderen Dinge. Und dann stehen meine Kollegen plötzlich hier in Berlin, wie eben gesehen, an der roten Ampel und machen noch schnell die Dokumentation im Auto. – Also, das kann alles sicherlich keine professionelle Tätigkeit sein, die auf Dauer diejenigen, die das ausüben, auch zufrieden hält und vor allen Dingen auch gesund.
Es kann doch nicht sein, dass diejenigen, die dafür eintreten, für diese verantwortungsvolle Leistung in der Gesellschaft, letztendlich selbst diejenigen sind, die abstürzen und krank werden.
Deutschlandradio Kultur: Stimmt es eigentlich, dass zumindest in letzter Zeit die Zahl derjenigen, die sich für einen Pflegeberuf entscheiden, etwas zugenommen hat? Und wenn ja, woran liegt das?
Andreas Westerfellhaus: Das wird mir auch immer wieder berichtet.
Deutschlandradio Kultur: Sie glauben es auch nicht so recht?
Andreas Westerfellhaus: Weil mir der Glaube fehlt und die verlässlichen Zahlen, die es mir transparent machen. Wissen Sie: Es ist gar nicht in erster Linie so wichtig, wie viele in den Beruf gehen, sondern ich möchte gerne wissen, wie viele bleiben am Ende und wie viele machen das Examen und gehen letztendlich in den Beruf. Und wenn ich dann höre, dass in einigen Bundesländern die Ausbildungsplätze in der Pflege erhöht worden sind, dann bezieht sich das überwiegend und häufig auf die Altenpflege, was ja von der Theorie, vom Ansatz erstmal in Ordnung ist.
Aber wenn ich dann gleichzeitig höre, dass während der Ausbildung die Abbrecherquote immens nach oben geht - weil dort schon gemerkt wird, dass diese Leistung nicht zu erbringen ist, keine Zeit für praktische Anleitung, für die Betreuung und für die Leistung, und weil Menschen entsetzt sind, wie man mit Bewohnern und Angehörigen in Teilen umgeht, und die diesen Beruf wieder verlassen -, dann erfüllt mich das mit Sorge.
Dann muss ich einfach dazu auffordern: Untersucht bitte nicht immer nur, wer geht rein in den Beruf, sondern bitte auch, wer steht nachher dem Arbeitsmarkt zur Verfügung.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben jetzt ganz dezent das Thema Geld umgangen. Dann mache ich das jetzt mal. Bekanntlich wird in der Branche nicht gerade üppig bezahlt. Wer zum Beispiel als Altenpfleger in Vollzeit zweieinhalbtausend Brutto verdient, der steht schon ganz gut da. In den neuen Ländern gibt es bisweilen für examinierte Pflegekräfte und eine 40-Stunden-Woche eintausendachthundert Euro.
Viel Stress, viel Verantwortung, wenig Lohn – hat professionelle Pflege so überhaupt eine Zukunft?
Andreas Westerfellhaus: Nein. Ich denke, da muss sich natürlich nachhaltig etwas ändern. Da sind die Tarifpartner natürlich aufgefordert, auch für bundeseinheitliche Vergütung und Tarife zu sorgen. Und noch dramatischer, Herr Steinhage, ist ja diese Situation: Sie haben jetzt gerade von Vollzeitbeschäftigung gesprochen - wie viele Menschen, die eine Vollzeitbeschäftigung gerne hätten im Bereich der Altenpflege, bekommen sie nicht, weil immer vorgehalten wird, dass die Strukturen in den Einrichtungen es nicht zulassen. Wie viele verwerfende Unterschiede gibt es zwischen Bundesländern, wo zwischen Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen dann tatsächlich 500 Euro Bruttodifferenzen sind für eine gleiche Arbeit.
Und mir kann auch niemand erklären, wieso man nach drei Jahren Ausbildung in der Altenpflege weniger verdient im Anschluss als nach einer dreijährigen Ausbildung in der Gesundheits- und Krankenpflege. – Wir sind eine Profession mit einer Qualifikation, mit einer großen und wichtigen gesellschaftlichen Aufgabe. Und die muss entsprechend honoriert werden.
Deutschlandradio Kultur: Sie sagten eben, manche wollen Vollzeit arbeiten und können es nicht. Aber es gibt doch auch viele gerade ältere Kolleginnen und Kollegen von Ihnen, die möchten gerne Vollzeit arbeiten, aber die schaffen das gar nicht mehr. Der Arbeitgeber fragt, „kannst du nicht Vollzeit gehen", dann sagen die: „Ich bin kaputt, ich kann nur Teilzeit arbeiten, auch wenn ich das Geld gut gebrauchen könnte".
Andreas Westerfellhaus: Richtig. Das habe ich eben auch versucht deutlich zu machen und anzusprechen. Es ist einfach so, dass viele Kolleginnen und Kollegen immer wieder berichten, und ich weiß das persönlich aus dem Erleben auch, dass sich die Arbeitsverdichtung auf die wenigen Menschen, die in dieser Anforderung tagtäglich stehen, so erhöht hat – keine planbaren Wochenenden, Urlaube ungewiss, kurzes Zurückrufen in den Dienst mit allen möglichen dann schnellen Argumenten, dass sie deswegen eben einfach auch nicht mehr können.
Und wenn wir doch deutliche Hinweise haben, dass gerade die psychosomatischen Erkrankungen im Bereich der Berufsgruppe erheblich zugenommen haben, dann muss das mehr als zu denken geben. Und dann steht die Ampel nicht auf gelb, sondern dann steht sie an dieser Stelle einfach auf Rot. Und ich glaube, wenn man diesen Rahmenbedingungen - mehr Kollegen! - was ändern würde, dann würde sich ja die Arbeitsleistung auch auf mehrere Schultern verteilen. Dann würde sich eine andere Form von Zufriedenheit einstellen. Dann würde ich abends als Pflegender nach Hause gehen können und sagen: „Heute hatte ich die Zeit, etwas zu erreichen. Ich habe meine Patienten verantwortungsvoll versorgen können. Und ich hatte nicht das Gefühl, den ganzen Tag hinter irgendjemand oder irgendetwas hinterher rennen zu müssen".
Deutschlandradio Kultur: Und die Pflegebedürftigen wären sicherlich auch ein Stück weit zufriedener, wenn ihnen mehr Zuwendung gegeben werden könnte.
Andreas Westerfellhaus: Sie erwarten das und sie erwarten das ja letztendlich zu Recht.
Deutschlandradio Kultur: Aber sie bekommen es oft nicht aus den genannten Gründen.
Andreas Westerfellhaus: Ja, aber das machen Sie einem mal klar, der jetzt das erste Mal in der Leistungsphase ist, oder Angehörigen auch, die das dann auch mitbekommen, die jahrelang in dem Glauben waren, dass sie durch eine Versicherung, durch ein Abtreten an Gehaltsanteilen letztlich dazu beitragen, dass das, was sie letztendlich in der Phase, wo sie diesen Staat brauchen und diese Gesellschaft, ja dann auch bekommen müssen.
Deutschlandradio Kultur: Herr Westerfellhaus, gucken wir mal in den Krankenhausbereich. Dort ist auch massiv Pflegepersonal abgebaut worden, allein den letzten Jahren rund 50.000 Vollzeitstellen. Die Folge: Das verbliebene Personal ist chronisch überfordert und die Patienten können oftmals nicht angemessen versorgt werden.
An der Berliner Charité hat es vor Kurzem einen zehntägigen Streik der Krankenschwestern und Pfleger gegeben, bei denen es nicht etwa um mehr Geld ging, sondern darum, dass die Charité mehr Pflegepersonal einstellt. Sie haben das vorhin schon angedeutet, ohne die Charité zu nennen. Zurzeit wird dort zwischen den Tarifpartnern noch verhandelt.
Könnte dieses Beispiel aus dem bekannten Berliner Krankenhaus Schule machen? Und würden Sie das begrüßen?
Andreas Westerfellhaus: Erstmal eine große Hochachtung vor den Kolleginnen und Kollegen, die das dann auch letztendlich hinbekommen haben. Man muss eins dazu wissen: Das gehört nicht unbedingt zur Historie der professionell Pflegenden, die Arbeit niederzulegen und zu streiken, weil immer die Sorge um den Patienten als Erstes im Mittelpunkt steht. – „Was passiert, wenn ich heute meine Arbeit nicht erbringe? Dann leidet ein Patient". Aber ein Patient leidet nicht, weil die Kolleginnen und Kollegen streiken, sondern der leidet jeden Tag, weil die Kolleginnen und Kollegen auf die Arbeitsumstände und die Arbeitszustände aufmerksam machen. Das ist das Wichtige.
Und dieser Knoten ist, glaube ich, erstmalig in der Charité durchschlagen worden und er hat bundesweite Aufmerksamkeit erreicht. Ich weiß, viele, viele, viele einzelne Aktionen in Deutschland, die an ähnlichen Einrichtungen stattfinden, die bestätigen dieses nur. Ich glaube, es bleibt am Ende kein anderer Weg, als deutlich zu sagen: Was passiert in Deutschland, wenn solidarisch an einem einzigen Tag professionelle Pflege in Deutschland in allen Sektoren nicht stattfindet? – Ich glaube, dann erst werden leider Gottes die entsprechenden Reaktionen folgen.
Deutschlandradio Kultur: Es ist erstaunlich. Auf der einen Seite, das wissen die meisten wahrscheinlich gar nicht, die beruflich Pflegenden sind die größte Berufsgruppe in Deutschland überhaupt mit über einer Million Menschen. Auf der anderen Seite sind die immer sehr still und zurückhaltend, sagen wir mal im Vergleich zu Lokführern oder zu Piloten oder auch zu Ärzten beim Marburger Bund.
Woher rührt diese Zurückhaltung, diese Bescheidenheit, falsche Bescheidenheit, könnte man sagen?
Andreas Westerfellhaus: Herr Steinhage, wenn ich das beantworten könnte, dann wäre ich ein ganzes Stückchen weiter. Weil das, was Sie vom Resultat ansprechen, ist natürlich richtig. Wenn die Berufsgruppe als größte Berufsgruppe im Gesundheitswesen sich ihrer Solidarität und ihrer Macht bewusst wäre, was es bedeuten würde, einen Schulterschluss herzustellen, sich beruflich zu organisieren, die Gemeinschaft zu zeigen und sich ihrer Position denn auch deutlich zu werden, dann wären wir nicht da, wo wir sind.
Meine Hilflosigkeit häufig und meine Ratlosigkeit ist, wie kann ich das ändern? Es gibt sehr wohl die Möglichkeit, mit uns zu kommunizieren und zu beklagen, was muss sich ändern, aber man muss, um Strukturen zu ändern, auch Menschen beauftragen, aus der Profession heraus dafür zu sorgen und das hauptamtlich zu tun und das mit allem Nachdruck. Da brauchen wir die gesamte Berufsgruppe, die sich wie eine geschlossene Wand hinter ihre Vertreter in der Berufspolitik stellt und sagt: „Ja". – Weil, es geht hier nicht um Ideologie. Es geht um die Versorgung von Menschen.
Und letztendlich geht's um mich, denjenigen, der den Beruf ausübt und das zufrieden und gesund auch machen muss. Aber das schafft jemand alleine nicht in der Durchsetzungsfähigkeit. Dafür braucht es dann eine ganz klare Solidarität.
Schauen Sie sich doch die wenigen Lokführer an. Wenige Lokführer legen das ganze Land über Tage lahm, erfahren eine immense Berichterstattung – Fragezeichen!
Deutschlandradio Kultur: Großer Kontrast. - Wir haben zu Anfang der Sendung kurz gesagt, wir wollen über die Pflegeausbildung reden, und dieses Versprechen jetzt auch einlösen. Um den Pflegeberuf attraktiver zu machen, sollen auch die Rahmenbedingungen der Ausbildung verbessert werden. Die Koalition plant eine Reform der Pflegeausbildung mit dem Ziel, die bisher getrennte Kinder-, Kranken- und Altenpflegeausbildung zusammenzuführen, das heißt, eine einheitliche Grundausbildung, auf die dann eine Spezialisierung aufsetzt. So habe ich das verstanden. Ihr Dachverband ist explizit für diese Reform. Warum?
Andreas Westerfellhaus: Wir sprechen von einer generalistischen Ausbildung mit Schwerpunktbildung, in der die unterschiedlichen Bereiche, die dann letztendlich in der Profession abgebildet werden müssen über die Kompetenzen, auch Berücksichtigung finden.
Wir glauben, dass es Zeit ist und dringend Zeit ist, dass die Qualifizierung, also die Ausbildung, sich auch den Anforderungen in der täglichen Praxis dann widmet. Es geht hier nicht alleine um Quantität, sondern es geht auch um die Qualität letztendlich in der Versorgung. Und das haben wir in vielen Modellen in Deutschland übrigens erprobt. In integrierten und generalistischen Ausbildungssystemen haben wir diese Erfahrung gemacht, wie sehr das positiv angenommen wird. Wir erhoffen uns dann erst auch eine Meinungsbildung innerhalb der Ausbildung, für welchen Bereich mache ich mich denn anschließend stark, wo finde ich denn meine besonderen Kompetenzen. Oder aber, wenn ich in meinem Berufsfeld selber über Jahre tätig bin, welche Möglichkeiten gibt es denn dann letztendlich auch, mich zu verändern? Wie sieht diese Profession dann in anderen Feldern letztendlich aus?
Ich möchte auch ein deutliches Wort dazu sagen: Es geht auch nicht, weil das immer vorgehalten wird, um die Abschaffung der Altenpflege. Es geht um eine neue Qualifizierung einer neuen gemeinsamen Profession. Es wird auch keine Gesundheits- und Krankenpflege mehr in dieser Form geben. Und ich kann den Kritikern immer nur sagen: Alle sind aufgerufen, sich genau dieser Gestaltung einer neuen qualifizierten Ausbildung zu stellen. – Es soll besser werden und nicht schlechter!
Und selbstverständlich gehört in diesen Kontext auch hinein, darüber zu reden: Wie ist die Regelung der Assistenzqualifikation? Und wie ist das Angebot der akademischen Qualifikation für die, die es wollen? Und die Forderung, die ich dahinter stelle, ist immer wieder: Das ganze System muss dann auch noch durchlässig sein. Dann wird es ein richtig attraktives Berufsfeld. Und dann sprechen wir von der Profession Pflege. Dann wird es auch keine unterschiedlichen Wertigkeiten geben, die so wahrgenommen werden. Dann wird's auch keine unterschiedlichen tariflichen Systeme mehr geben können.
Deutschlandradio Kultur: Kritiker sehen das natürlich naturgemäß anders. Sie haben es selber schon angesprochen. Da heißt es dann: Der Beruf des Altenpflegers werde dann noch unattraktiver werden. Wenn diese Durchlässigkeit gegeben ist, dann gehen noch mehr Leute lieber in die Krankenpflege, zum Beispiel, weil es da auch mehr Kohle gibt. Außerdem, diesen Kritikpunkt hatten wir jetzt noch nicht, bei einer generalistischen Ausbildung bleibe zu viel Fachwissen auf der Strecke. Es handelt sich dann eher um eine Schmalspurausbildung. – Was entgegnen Sie?
Andreas Westerfellhaus: Nein. Drei Jahre hochqualifizierte Ausbildung sind keine Schmalspurausbildung. Sie werden ein ganz anderes Curriculum haben mit ganz, ganz anderen Inhalten. – Und nochmals: Ich hatte ja zu Beginn schon erklärt, es wird ja dann eine Vertiefungssituation in bestimmten Fachbereichen geben. Da hat man sich dann dazu erklärt, mit welchem Schwerpunkt möchte ich letztendlich abschließen.
Und man darf doch auch eins nicht außer Acht lassen. Wir haben doch heute auch die Situation, dass eine dreijährige Ausbildung in der Gesundheits- und Krankenpflege oder in der Altenpflege häufig nicht reicht, indem sich dann Kolleginnen und Kollegen entschließen, Fachweiterbildungen zu absolvieren, die sie weiter spezialisieren. Und ich glaube, das ist der richtige Weg, aber der ist sehr, sehr zielgerichtet. Es geht nicht um eine Vereinfachung der Ausbildung.
Und wissen Sie, ich kann die ganze Aufregung auch nicht so richtig verstehen. Wer da kritisiert, dass es eine Schmalspurausbildung sein wird, die all das nicht beherzigt, der weiß mehr als ich. Denn niemand kennt bis heute die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung, die ja maßgeblich darüber entscheiden wird. Niemand kennt bislang einen Referentenentwurf, der die Inhalte hat. Ich rufe alle Kritiker auf: Dann, wenn diese Dinge vorliegen, dann lasst uns aber bitte gemeinsam und nicht gegeneinander in der Profession daran gestalten, dass aus unserer Profession was wird. Das Mitspracherecht dafür, das müssen wir allerdings haben. Das darf man anderen nicht überlassen.
Deutschlandradio Kultur: Herr Westerfellhaus, die Arbeitgeber in der Pflegebranche beklagen unisono den Fachkräftemangel. Wir haben das Thema jetzt auch schon angesprochen. Die meisten tun sich aber schwer damit, sich nach ausländischen Pflegerinnen und Pflegern umzusehen, also beispielsweise für Pflegeheime. – Können Sie diese Zurückhaltung verstehen?
Andreas Westerfellhaus: Ich kann diese Zurückhaltung nicht verstehen. Ich kann sie allerdings in dieser Form nicht bestätigen. Ich kenne genauso viele Aktionen, in denen dann ja auch über Assessment-Verfahren versucht wird, in anderen Ländern letztendlich die Anwerbung von ausländischen Pflegekräften umzusetzen.
Es gibt eine Reihe von Problemen dabei. Als Erstes sage ich immer: Solange wir nicht unsere Hausaufgaben für die Rahmenbedingungen, unter denen wir arbeiten, hier in Deutschland gemacht haben, wird es auch kein dauerhafter Erfolg sein, Menschen aus anderen Ländern hier zu halten. Dann muss man im Weiteren berücksichtigen, dass in vielen anderen internationalen Staaten komplett andere Ausbildungssysteme vorliegen. Es gibt in den meisten Ländern, in den internationalen Staaten eine akademische Qualifizierung. Das muss ich berücksichtigen.
Es kommen die Menschen zu uns und sagen, ich bin gerne bereit, in diesen Beruf zu gehen, und erleben, in welchem Hickhack, in welchem Delegationswust, in welchem rechtlosen Raum wir uns häufig, was die Berufsausübung angeht und die tarifliche Situation angeht, denn letztendlich befinden. Und dann bleiben sie nicht.
Man muss natürlich auch sagen, dass es ein erheblicher Aufwand ist. Die Menschen müssen geschult werden. Sprache ist die Basis in der Auseinandersetzung und in der Kommunikation mit Menschen, die uns anvertraut sind, die ja eingeschränkt sind in ihren Lebensfunktionen. Sie haben andere kulturelle Verständnisse aus anderen Ländern. Das alles muss Berücksichtigung finden. Es ist aber ein ergänzender Baustein, dem wir uns viel mehr widmen müssen, auch unter dem Aspekt, dass wir ja jetzt gerade erleben in Deutschland, dass wir eine erhebliche Zuwanderung erfahren, wo wir auch ein Augenmerk drauf legen müssen. Sind hier nicht Menschen, die wollen – nicht bitte falsch verstanden mit dem Argument, jetzt sind da welche, die müssen, nein, aber diejenigen, die vielleicht schon qualifiziert sind, für die das das eine Perspektive sein könnte - auch das müssen wir mit im Fokus haben.
Deutschlandradio Kultur: Um dem Fachkräftemangel etwas entgegenzusetzen, hat die Politik in der Altenpflege den Weg frei gemacht für sogenannte Betreuungsassistenten. Auch das klang ja schon ganz kurz an. Bis zu 45.000 dieser angelernten Quereinsteiger sollen in der Pflege aushelfen. – Macht das Sinn?
Andreas Westerfellhaus: Das macht Sinn, aber es macht nur Sinn, wenn auch klar definiert wird, was sind Betreuungsassistenten. Wer sind sie? Und was dürfen sie?
Wenn das passiert, was jetzt gerade in vielen Einrichtungen passiert, weil nicht genügend professionelle Fachkräfte da sind, Betreuungsassistenten die Aufgaben von Profis übernehmen, dann ist das gefährlich. Es ist gefährlich für die Patienten und für die Bewohner.
Deutschlandradio Kultur: Lebensgefährlich.
Andreas Westerfellhaus: Das ist lebensgefährlich und es entspricht auch nicht eigentlich, denke ich, dem Ansinnen des Gesetzgebers. Das ist immer das Problem, wenn man neue Assistenzberufe schafft und nicht gleichzeitig klärt, wer darf an welcher Stelle etwas und wo hört es dann letztendlich auf. Übrigens ist das auch ein Problem der Pflege in Deutschland insgesamt. Weil, wir haben ja bislang auch in diesen von Ihnen erwähnten drei Berufssparten lediglich eine geschützte Berufsbezeichnung. Wir haben keine berufsrechtlichen Absicherungen! Wer darf eigentlich was mit welcher Qualifikation? Daher ist natürlich zu erklären, dass es an Schnittstellen dann möglicherweise noch schwieriger wird.
Deutschlandradio Kultur: Herr Westerfellhaus, als wir vor genau zweieinhalb Jahren schon einmal ein Tacheles-Gespräch geführt haben, da antworteten Sie auf meine Frage, ob wir in Deutschland einen Pflegenotstand haben, unumwunden mit einem ganz klaren Ja.
Die Frage jetzt 30 Monate später: Hat sich an diesem Befund etwas verändert, vielleicht zum Besseren, vielleicht gar zum Schlechteren?
Andreas Westerfellhaus: Leider Gottes - und ich bin erschrocken, dass Sie schon über 30 Monate reden -, leider Gottes hat sich hier nichts verändert, sondern im Gegenteil. Es ist viel dramatischer geworden. Wenn Sie sehen, dass die, die Sie auch als Vergleich heran nehmen, dass die Menschen, die in der Pflege arbeiten, nicht mehr bereit sind, aus der Verantwortung gegenüber den Patienten das hinzunehmen, ist es ein deutliches Indiz dafür.
Wir haben immense Rückmeldungen von Patienten und von Angehörigen aus den Krankenhäusern und Altenpflegeeinrichtungen, in der ambulanten Versorgung usw., dass sie auch als Gesellschaft nicht mehr bereit sind, dieses zu akzeptieren.
Also, unterm Strich: Meine Kolleginnen und Kollegen können nicht mehr! Es ist nicht nur Rot, es ist Dunkelrot und es ist fürchterlich nach Zwölf! Und ich weiß nicht, warum wir mit dieser Politik oder mit diesem Teil der Pflegepolitik ein solches Nischendasein führen.
Ich fordere ganz klar auch in der deutschen Politik insgesamt, dass Gesundheits- und Pflegepolitik den Stellenwert brauchen, den für uns selbstverständlicherweise Energie- und Umweltpolitik haben, für die man sich ganz anders einsetzt in dieser Gesellschaft.
Deutschlandradio Kultur: Ein ganz klares Statement noch einmal zum Schluss. Vielen Dank, Herr Westerfellhaus.

Andreas Westerfellhaus, geboren 1957. Ausbildung zum Fachkrankenpfleger; Pfleger auf Intensivstation; Pädagogik- und Betriebswirtschaftsstudium; Geschäftsführer der Zentralen Akademie für Berufe im Gesundheitswesen in Gütersloh. Seit Oktober 2009 Präsident des Deutschen Pflegerats.

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