Andreas Weigend: "Data for the People"

Wenn Datenschutz nicht mehr praktikabel ist

Buchcover von Andreas Weigends "Data for the People". Im Hintergrund: ein kaputtes Handy.
Buchcover von Andreas Weigends "Data for the People". Im Hintergrund: ein kaputtes Handy. © imago/Arnulf Hettrich/Murmann
Von Wolfgang Schneider · 22.05.2017
Die Ära der Privatsphäre ist unwiederbringlich vorbei. Das macht Andreas Weigend in seinem Buch "Data for the People" deutlich. Und weil wir die Daten über uns nicht mehr kontrollieren können, plädiert er für völlige Transparenz.
Über die Ängste der Datenschützer der 80er-Jahre kann man nur noch lächeln, so weit hat die Realität sie überholt. Jeder Benutzer eines Smartphones gibt heute bereitwillig mehr Informationen über sich, seine Vorlieben, Freundeskreise und Ortsveränderungen preis, als sich in einer tausendseitigen Stasi-Akte sammeln ließen.
Andreas Weigend ist selbst in der DDR aufgewachsen und beschreibt in der Einleitung, wie er als junger Mann von der über ihn angelegten Akte überrascht war. Heute bleibt die Empörung aber weitgehend aus, weil viele Menschen zum einen nicht genau wissen, in welchem Maß ihre Daten abgegriffen und verwertet werden. Und, zum anderen, weil sie eine starke Gegenleistungen dafür bekommen: eine passgenau auf sie zugeschnittene Welt aus Informationen, Kaufempfehlungen und Kontakten. Wer das haben will, muss auch geben. Muss preisgeben. Alles.
Weit entfernt ist Weigand von Orwellschem Überwachungs-Pessimismus. Vielmehr lobt er die Leistungen von Google, Facebook, Amazon und anderen Internet-Imperien; er nennt sie nicht Daten-Kraken, sondern "Daten-Raffinerien" oder "Daten-Veredler". Die exponentiell anschwellenden Massen an Daten, die in einer vernetzten und mit Milliarden Sensoren ausgestattete Welt ständig anfallen, gestalten diese Firmen zu sinnvollen Produkten und Dienstleistungen um, ohne die keiner – und schon gar nicht Andreas Weigend – mehr leben wolle. Der "Mehrwert" überwiege die kleinlichen Bedenken.

Die Ära der Privatsphäre ist vorbei

Weigend lässt keinen Zweifel: Die Ära der Privatsphäre ist unwiederbringlich vorbei. Datenschutz im Sinn der Einschränkung, als Vermeidung oder Zurückhaltung von Daten – das sei eine antiquierte, heute nicht mehr praktikable Strategie. Schon deshalb, weil viele der über "mich" verfügbaren Daten nicht von "mir" selber kommen, sondern aus anderen Quellen. "Ich" kann sie gar nicht kontrollieren.
Anonymisierungswerkzeuge haben keine Chance mehr. Weigend plädiert deshalb nicht für Restriktion, sondern für völlige Transparenz. Einsicht in die Prozesse in den Datenraffinerien, uneingeschränkter Datenzugang und dazu das Recht auf "Ergänzung" der eigenen Daten, also eine Korrekturfunktion – das sind die Strategien, mit denen "wir die Macht über unsere Daten zurückerobern". Für einen Spezialisten wie Weigend mögen das Optionen sein; dem simplen User, der noch nie etwas programmiert hat, ist damit vermutlich wenig geholfen.
Weigend war Chefwissenschaftler von Amazon, er hat viele Firmen und Datenraffinerien beraten und gilt als einer der führenden Experten zum Thema. Seine Ausführungen sind profund und erhellend, sofern sie die heutigen Realitäten des Datensammelns und die damit verbundenen Experimente mit den "Kunden" beschreiben.
Weigend analysiert die Vorgänge allerdings nicht als kritischer Beobachter, sondern als Akteur der Entwicklung, der sich gern auch als Pionier der "Datenveredelung" inszeniert. Aus dieser Involviertheit erklären sich der missionarische Einschlag des Buches und eine bisweilen naiv anmutende Euphorie über die sozialen Medien. Dennoch ist das Buch zum besseren Verständnis unserer digitalen Gegenwart zu empfehlen.

Andreas Weigend: "Data for the People. Wie wir die Macht über unsere Daten zurückerobern"
Murmann Publishers 2017, 340 Seiten
26,90 Euro

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