Anatomie der südkoreanischen Gesellschaft

Von Tobias Feld |
Eines Tages entdeckte der südkoreanische Politikwissenschaftler Noh Suntag die Fotografie als Werkzeug, um die Gesellschaft zu sezieren. Seither gilt der 43-Jährige als herausragender Künstler des Landes. Seine Bilder zeigen eine Welt zwischen Agonie und Aufbruch.
Ratternde Rotorblätter, auffahrende Panzer, nervöse Soldaten an der Grenze – Noh Suntag zeigt ein Land im Ausnahmezustand. Es ist eine Szenerie, die nach den Worten des preisgekrönten Fotografen nicht allein seine Arbeit, sondern auch ein ganzes Land prägt.

"Die Angst vor dem Krieg steckt vor allem noch jener Generation in den Knochen, die ihn mitgemacht hat. Und die ihre Geschichte und ihren Schmerz Kindern und Kindeskindern vererbt. Seit gut 50 Jahren herrscht zwar Waffenstillstand. Der jedoch fühlt sich höchst fragil an, und hat gemeinhin eine Art Leben in der Schwebe zur Folge. Als Koreaner lernt man früh, mit der Angst zu leben."

Doch es seien, wie schon zurzeit des Koreakriegs, freilich nicht die Menschen auf der koreanischen Halbinsel, die sich unversöhnlich gegenüberstünden – sondern zwei Systeme, die ihre Bürger in Haftung nähmen. In seinem Blog erklärt Suntag:

"Das Konfrontationsbewusstsein hat nicht nachgelassen. Die politische, wirtschaftliche und militärische Abhängigkeit Südkoreas von den USA potenziert diese Konfrontation zusätzlich. Heute hörte ich ein kleines Mädchen ihren Vater fragen: 'Wird es Krieg geben?' Im Volksmund sagt man: 'Unmittelbar vor Tagesanbruch ist es am dunkelsten.'"

Vor allem im Norden des Landes ist diese Paralyse bekanntlich omnipräsent. Aber eben nicht nur dort. Das wird deutlich, wenn Noh von der momentanen Einschränkung der Meinungsfreiheit berichtet. Vor einiger Zeit, sagt Noh …

" …wurden in Seoul zusammen mit Werken von mir auch Arbeiten eines befreundeten Künstlers gezeigt; einem Flüchtling, der dem Norden entkam – und hier Bilder aus dem Alltag der Menschen seiner Heimat zeigte. Er wurde dafür eingesperrt – weil er Propaganda für den Kommunismus betreiben würde. Welche Dinge entstehen in unserer Gesellschaft? Warum entwickeln sie sich so? Was ist Wahrheit und was Lüge? Warum lernen wir in der Wissenschaft nichts über fortschrittlichere politische Modelle? Warum ist die Verwirklichung einer besseren Gesellschaft verboten? In all den Jahren des Schreibens, des Fotografierens, machte sich bei mir das Bewusstsein breit: Da sind noch andere, die es ähnlich gehen muss."

Südkorea laut UN ein "schrumpfender Raum für Meinungsfreiheit"
Tatsächlich leiten die Behörden immer öfter mit Verweis auf das Gesetz über Nationale Sicherheit Verfahren ein. Südkorea sei, so stellte der UN-Sonderberichterstatter über Meinungsfreiheit, Frank La Rue im März 2013 fest, ein "schrumpfender Raum für Meinungsfreiheit". Kunst in dieser Situation, sagt Noh …

"… soll keine wohlfeilen Antworten, keine Lösung servieren. Wie könnte es auch. Vor allem in einer Zeit wie dieser, in der sich Südkorea immer unpolitischer gebärdet. Im Grunde ist das ein Prozess, der seit rund 20 Jahren voranschreitet. Unserem Hyperkapitalismus geschuldet ist, in dem natürlich Ideale eindampfen und jeder nur noch sich selbst der Nächste ist."

Korea vereinige mittlerweile die Wettbewerbsideologie seiner Schutzmacht USA mit der Mentalität seines asiatischen Preußentums, schreibt der renommierte Kulturkritiker Hanns-Georg Rodek. Der Einzelne bleibe dabei auf der Strecke. Was Kunst da auszurichten vermag? Noch einmal Noh Suntag:

"Mein Fotoband sollte nicht mehr sein, als ein Angebot, das 'Wir' wieder zu entdecken. Zuzuhören. Und nicht reflexartig zu verurteilen. Das gilt auch vor allem dem Norden Koreas gegenüber."


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