Analysen des Alltäglichen

Der Ethnologe Thomas Hauschild plädiert in seinem Sachbuch "Ritual und Gewalt" dafür, den Blick auf ganz alltägliche Vorgänge und Verhaltensweisen der Gesellschaften zu richten. Das Ziel: falsche Abgrenzungen überwinden und Abdriften in neokolonialistisches Besserwissen vermeiden. Leider sind die Analysen des Autors, die vom Ehrenmord über die Mafia bis hin zu El Kaida gehen, nicht immer überzeugend.
Religion, Ritual, Gewalt, Ehre - alles Dinge, die eine postmoderne, politisch korrekte, westliche Kultur aus ihrem Repertoire wegsublimiert hat? Nur um jetzt umso härter mit rückständigen fundamentalistischen islamischen Ideologien zusammenzuprallen? Der Kampf der Kulturen als Konflikt zwischen Fortschritt und Rückständigkeit, zwischen Zivilisation und archaischen Gesellschaften?

Auch wenn sich solche groben polemischen Abgrenzungen und Zuweisungen in den letzten Jahren häufen mögen, ist doch klar, dass damit die derzeitigen globalen Herausforderungen nicht besonders sinnvoll beschrieben sind. Wie aber soll man über die großpolitischen Herausforderungen der Welt von heute sprechen und denken?

Das ist die Frage, über die Thomas Hauschild, Professor für Ethnologie in Halle, in seinem neuen Buch "Ritual und Gewalt" ausführlich nachdenkt. Es besteht aus einer Reihe von Aufsätzen zu scheinbar recht verschiedenen Themen: vom religiösen Volksbrauchtum in Süditalien über die soziale Struktur der Mafia und das Kommunikationsnetzwerk der El Kaida bis hin zur deutschen Rechtspraxis und -theorie betreffend sogenannte "Ehrenmorde".

Gerahmt und durchzogen ist das Ganze von theoretischen Überlegungen. Überall geht es Hauschild darum zu zeigen, dass, anders als er es gewissen postmodernen kulturwissenschaftlichen Ansätzen vorwirft, die Welt eben nicht nur Text ist, sondern auch Ritual, nicht nur Denken und Geist, sondern auch Körper. Konkret bedeutet das, dass der Ethnologe den Blick auf alltägliche Vorgänge und Rituale richten soll, physisch vorhandene Phänomene, die nicht in Texten oder anderen Medien festgehalten sind, sondern sich nur der kleinteiligen Beobachtung erschließen, wie sie eben die klassische ethnologische Feldforschung seit jeher betreibt.

Mittels einer solchen Mikro-Forschung, und das ist der politische Anspruch, kann man sowohl den falschen kulturkämpferischen wie kulturrelativistischen Abgrenzungen begegnen und die "falsche Alternative von Überlegenheit und Relativität" überwinden.

Wer sich Gesellschaften kleinteilig genug und materialistisch genug anschaut und dabei den Blick in gleicher Weise auf das Eigene wie das Fremde richtet, der muss weder in neokolonialistisches Besserwissen noch in unkritisch-wohlmeinenden Kulturrelativismus verfallen. Sondern kann als Ethnologe jenseits von moralischen Wertungen, sozusagen jenseits von Gut und Böse, den Menschen und seine Kulturen in ihrem Funktionieren beobachten. Hauschild spricht in diesem Zusammenhang von einem materialistischen Universalismus.

Theoretisch klingt das alles sehr plausibel. Schade, dass Hauschild den selbst formulierten Anspruch in seinem Buch nur ansatzweise einlöst. Er berührt viele interessante Themen und Fragen, aber das meiste ist entweder skizzenhaft oder arg abstrakt und oft bleibt er schlicht im Methodisch-Programmatischen stecken - über weite Strecken geht es eher darum, wie man Fragen behandeln soll, als dass diese Fragen selbst tatsächlich behandelt werden.
Anregungen zum Weiterdenken bietet das Buch trotzdem viele. Etwa wenn Hauschild die sizilianische Mafia in ihren verschiedenen Facetten beschreibt, zwischen "ehrenwerter Gesellschaft" mit klaren ethischen Codes einerseits und "gewalttätigem Unternehmen" andererseits; ebenso aber auch als Sozialstruktur, die - ins Kriminelle gewendet - recht nahe an anderen sizilianischen Gesellschaftsformen liegt. Und überdies zeigt, wie sehr sich nicht nur die wissenschaftliche Literatur sondern auch die reale Mafia selbst an literarischen und filmischen Vorbildern orientiert.

Oder wenn er die deutsche Rechtsprechung zum sogenannten Ehrenmord und ihre vielfach falschen ethnologischen Voraussetzungen einer sehr plausiblen Kritik unterzieht. Hauschild zeigt eindeutig, dass es keinen fixierten mediterranen oder islamischen Ehrenkodex gibt, der Männer dazu treibt, ihre Schwestern oder Töchter zu töten, sondern dass die sogenannten Ehrenmorde auch innerhalb traditioneller Gesellschaften eher als Fehlfunktionen anzusehen sind, die auftauchen, wenn andere Ausgleichungsmechanismen versagt haben.

An solchen Beispielen wird auch deutlich, warum die von Hauschild breit debattierte Frage nach der richtigen Art von Wissenschaft keine rein theoretische ist, sondern eben durchaus praktische Konsequenzen hat - für die Rechtsprechung, für die Sozialpolitik.

Rezensiert von Catherine Newmark

Thomas Hauschild: Ritual und Gewalt.
Ethnologische Studien an europäischen und mediterranen Gesellschaften

Suhrkamp, Frankfurt am Main 2008
258 Seiten, 24,80 Euro