An ihren Worten sollt ihr sie erkennen

Von Martin Ahrends · 13.08.2010
Auf die sozialen Wirkungen der Industrialisierung gab es ganz unterschiedliche Antworten: lebenspraktische, politische, künstlerische, philosophische. Es gab auch quasi-religiöse Antworten: Diverse Heilslehren versprachen die Rückkehr in vorindustrielle Idyllen oder den Ausgang aus der barbarischen Moderne in eine lichte Zukunft, einen dritten, ganz neuen gesellschaftlichen Zustand, darin das Industriezeitalter aufgehoben und humanisiert sein würde.
Die Heilslehren boten zunächst vor allem jenen Trost, die am meisten unter den modern times zu leiden hatten, doch die Lebenspraxis fand weit genauere Antworten, und es gelang, die Industriegesellschaft auch für ihre Unterklassen zu humanisieren. Die Heilslehren verblassten – mit einer Ausnahme: Im kriegsgeschwächten Russland konnte sich der Kommunismus 1917 als Staatsideologie festkrallen, das Kalkül der deutschen Obersten Heeresleitung war allzu gut aufgegangen, nachdem man den Revolutionär Lenin mit einem verplombten Zug als eine Art Virus dem Kriegsgegner eingepflanzt hatte. Wie sich der Virus nach dem Zweiten Weltkrieg auf halb Europa ausbreiten konnte, entspricht ganz der Eigenart seiner Verbreitung: mit Waffengewalt, ohne demokratische Legitimation unter der Bedingung geschwächter gesellschaftlicher Immunkräfte.

"Die Idee wurde zur materiellen Gewalt", hieß es im offiziellen Sprachgebrauch der Ostblockstaaten, die verwirkliche Utopie zeigte dort ihre Fratze: Entwicklung wurde in nahezu allen Bereichen fest- und stillgelegt, am Baum kommunistischer Theorie, einer so genannten "wissenschaftlichen Weltanschauung", verdorrten Blätter und Früchte, weil sie nicht wuchsen, wie sie sollten. An die 70 Jahre dauerte der Spuk, bis er mit erheblicher Verspätung implodierte und Verwüstungen unterschiedlichster Art hinterließ.

Das kommunistische Russland hatte zunächst viele Anhänger unter der Künstlern und Intellektuellen Westeuropas, die Begeisterung erlosch zumeist schlagartig, sobald man den real existierenden Kommunismus in Augenschein genommen hatte. Man könnte das Phänomen als ein Missverständnis betrachten. Ein Missverständnis derer, denen die Transzendenz, das Unmögliche und Utopische von Berufs wegen näher ist als die Kunst des Möglichen, das auf Kompromisse bedachte Denken der politischen Berufe. Ein verhängnisvolles Missverständnis, für das Menschen zu zahlen hatten, die daran nicht schuld waren.

An der sowjetischen Landwirtschaft unter Stalin sind nicht deren Erfinder und Exekutoren verhungert, sondern tausende Unschuldiger. Dessen ungeachtet haben sich Künstler und Intellektuelle immer gern politisch links gegeben, solang das nichts kostete; in der östlichen Hemisphäre konnte man mit der richtigen Gesinnung sogar zum Staatkünstler avancieren, allerdings kostete es dann auch erheblich mehr als im Westen, wenn man sich anschickte aus dieser Indienstnahme zu dissidieren.

Die Geschichte des real existierenden Kommunismus ist eine Geschichte von Angst und Schrecken. Wenn man sich nun, wie jüngst in einer Großveranstaltung mit Eventcharakter, der "Idee des Kommunismus" widmet, ist mir Angst um die jungen Leute, die sich da mit offenen Mündern, in der Haltung eingeweihter Jünger um drei Großmeister der kommunistischen Idee versammeln. Hier bekommt man den Kommunismus als Kunstprojekt geboten: sprachliche Eruptionen, deren einigermaßen verständlicher Teil darauf zielt, den trockenen Baum der alten Theorie mit den Schreckensnachrichten unserer Tage anzuhübschen. Atmosphärisch ist es eine geschlossene Veranstaltung in einem doch eigentlich öffentlichen Raum. Als Beobachter fühle ich mich so deplatziert wie damals, als ich 1971 an der Ostberliner Humboldt-Universität in Marxismus-Leninismus unterrichtet wurde.

Ich werde daran erinnert, wie gefährlich es war, in meiner Studentenzeit seinen Unglauben an die "große Sache" zu offenbaren. Auch damals befleißigten sich deren glühende Anhänger einer lebensfernen, verrätselten bis poetischen Sprache, die sie in eine gewisse Nähe zur Kunst rückte und unangreifbar machte. Ich erinnere mich an Kommilitonen, die wiederkäuen, was sie nie verstehen können, während man ihnen deutlich ansieht, wie gut es ihnen tut, zu denen zu gehören, die den großen Durchblick auf ihrer Seite haben. Und die verheißene Macht. Die haben sie heute nicht mehr. Gott sei Dank. Die Eingeweihten bleiben unter sich, und ich kann den Ort verlassen ohne auf einer schwarzen Liste vermerkt zu werden.

Martin Ahrends, Autor und Publizist, geboren 1951 in Berlin, Studium der Musik, Philosophie und Theaterregie, Anfang der 80er Jahre politisch motiviertes Arbeitsverbot in der DDR, 1984 Ausreise aus der DDR, Redakteur bei der Wochenzeitung "Die Zeit" und seit 1996 freier Autor und Publizist.