An den Grenzen des Bewusstseins

„Mit einem Schlag“ verliert die damals 37-jährige amerikanische Hirnforscherin Jill B. Taylor jegliches Gefühl für Zeit und Raum. Sie erlebt ihren eigenen Schlaganfall – den sie in ihrem Buch aus der Innenperspektive beschreibt. Zu den Fakten über die Funktionsweise des Gehirns kommen jetzt die unmittelbar selbst gemachten Erfahrungen.
Jill Taylor ist 37 Jahre alt, als sie einen Schlaganfall erleidet. Eine Ader in ihrem Kopf platzt und schädigt große Teile ihrer linken Gehirnhälfte. Plötzlich kann die junge Frau nicht mehr sprechen, erkennt keine Zahlen mehr und kann kaum noch gehen – von ihrer Außenwelt ist sie komplett abgeschnitten.

Doch Jill Taylor ist Hirnforscherin, und so erlebt sie ihren Schlaganfall auch als eine Art Forschungsreise durch das eigene Gehirn. Acht Jahre später, sie steht wieder voll im Berufleben, reflektiert sie die Ereignisse jenes Morgens, an dem sie ihren Schlaganfall erlitt und erzählt wie sie im Verlauf der Jahre wieder geheilt wurde.

Herausgekommen ist so ein faszinierender Bericht, der uns die Grenzen unseres Bewusstseins aufzeigt. Denn das wissenschaftliche Know-how der Forscherin erlebt durch den Schlaganfall eine neue Bewertung: Zu den Fakten über die Funktionsweise des Gehirns kommen jetzt noch die unmittelbar selbst gemachten Erfahrungen.

Anschaulich beginnt Jill Taylor mit einem ausführlichen Kapitel zu den grundsätzlichen Funktionsweisen des Gehirns. Allgemein verständlich erläutert sie hier, wie das Gehirn aufgebaut ist und wie es im Normalfall funktioniert. So besteht unser Gehirn aus zwei Hälften, einer rechten und einer linken, die unterschiedliche Aufgaben erfüllen. Die rechte Gehirnhälfte ist für unsere Gefühlswelt verantwortlich, die linke besetzt den rationalen Part, sie kontrolliert unser Verhalten.

Bei Jill Taylor ist die linke Gehirnhälfte geschädigt, und so kommt es, dass sie trotz der massiven intellektuellen Ausfälle eine große Geborgenheit während ihres Schlaganfalls in sich spürt. Sie füllt sich losgelöst und gleichzeitig eins mit dem Raum, empfindet ihren Körper als grenzenlos, ähnlich einer Flüssigkeit. Ein angenehmes Gefühl, von dem sie sich kaum lösen mag.

Zugleich merkt Jill Taylor aber, dass ihre linke Gehirnhälfte noch Signale sendet. Nur versteht sie die Botschaften nicht. So sieht sie das Telefon, weiß aber nicht, wie man es benutzt. Sie kann den Ziffern keine Bedeutung zuordnen. Als sie es unter größter Anstrengung schafft einen Freund anzurufen, kommt kein Wort mehr über ihre Lippen. Wie in sich selbst gefangen, ohne Chance der Außenwelt mitteilen zu können, was mit ihr geschieht, erlebt die Wissenschaftlerin, wie sie immer weniger rational handlungsfähig ist. „Stille belegt den Kopf“, schreibt Taylor, „ich bin nur noch Gefühl, bewerte ausschließlich emotional.“

Anhand vieler kleiner Beispiele beschreibt sie eindringlich den Kampf, der kurz nach dem Schlaganfall in ihrem Kopf stattfindet. Das ist so mitreißend geschrieben, dass man als Leser mitfiebert und fürchtet, dass sie es nicht schaffen könnte, Hilfe zu holen. Auch die folgende Einlieferung ins Krankenhaus und die ersten Genesungsschritte verfolgt man als Leser gespannt. Als eine junge Ärztin sie zum Beispiel untersucht, empfindet sie deren lautes Fragen als demütigend und schmerzhaft. Die Verletzung ihres Gehirns lässt ihr aber keine Möglichkeit,
sich zu wehren.

Ebenfalls bemerkenswert ist, mit wie viel positiver Energie die Autorin ihre Genesung vorantreibt. Nur vier Monate nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus hält sie bereits wieder den ersten Vortrag auf einer wissenschaftlichen Konferenz. Zuvor muss sie aber erst wieder lesen, schreiben und sprechen lernen.

Das klingt zunächst unglaublich. Doch Jill Taylors Rezept für ihren Genesungserfolg lautet: Nicht erwarten, dass alles so wie vorher klappt, und zugleich Tag für Tag hartnäckig das Gedächtnis trainieren. So findet das Gehirn neue Wege, um Informationen abzuspeichern. Das gilt für die meisten Schlaganfallpatienten. Oft lassen sich zwar die geschädigten Verbindungen nicht wieder herstellen, aber vieles lässt sich wieder neu erlernen. Je jünger der Patient, desto größer sind die Chancen für eine vollständige Genesung.

Mit ihrem Buch will Taylor Mut machen – Betroffenen wie Angehörigen – und das gelingt ihr auch. Denn wer das Innenleben eines Schlaganfallpatienten versteht, kann ihm viel besser helfen. Eine freundliche Ansprache, kontinuierliche Förderung und viel Ruhe helfen Gehirnzellen, sich neu zu vernetzen, schreibt Jill Taylor. Denn das Potential unseres Gehirns ist enorm.

Schade ist nur, dass Jill Taylor sich hauptsächlich auf den Ausfall der linken Gehirnhälfte konzentriert; was geschieht, wenn das Gefühlszentrum durch einen Schlaganfall betroffenen ist, erwähnt sie nicht. So bleibt ihr Bericht eine spannende, wenn auch sehr persönliche Grenzerfahrung, die eine wirklich ungewöhnliche Perspektive auf den menschlichen Geist ermöglicht.

Rezensiert von Susanne Nessler

Dr. Jill B. Taylor: Mit einem Schlag. Wie eine Hirnforscherin durch ihren Schlaganfall neue Dimensionen des Bewusstseins entdeckt
Aus dem Amerikanischen von Theda Krohm-Linke,
Knaur Verlag, München 2008,
235 Seiten, 16,95 Euro