Amüsante Gesellschaftsstudie mit satirischen Verzerrungen

23.10.2006
Ein Roman für Verehrer des indischen Kinos: Shashi Tharoor bastelt sich aus den Erzählformen des Films, dem Bäumchen-Wechsel-Dich-Spiel der Helden und den Liedeinlagen eine eigene Ästhetik und legt mit "Bollywood" eine ironische Würdigung der Kinosucht seiner Landsleute vor. Jede Figur und zahlreiche Redewendungen bezieht er aus den großen Kinomythen seiner Heimat.
"Bollywood" ist ein Roman für Verehrer des indischen Kinos. Spätestens seit "Sometimes happy, sometimes sad" (2003), dem ersten deutsch untertitelten und breiter vertriebenen Hindi-Film bei uns, hat auch das deutsche Publikum von der indischen Filmindustrie Notiz genommen. Inzwischen laufen die farbenprächtigen Drei-Stunden-Epen, in denen meist von einer verfehlten Hochzeit, der schmerzlichen Entzweiung eines Familienclans und der Jahre später erfolgenden tränenreichen Versöhnung der zerstrittenen Sippe erzählt wird, sogar im Privatfernsehen, allerdings in leicht gekürzter Form. In den europäischen Varianten der großen Filme mit dem omnipräsenten Shah Rukh Khan verzichtet man auf einige der ausufernden Tanz- und Gesangsszenen, ohne die indisches Kino nicht denkbar ist.

Der 1956 in London geborene indische Politikwissenschaftler und Schriftsteller Shashi Tharoor, der Assistent von Kofi Annan war und mittlerweile die Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit der UNO leitet, bastelt sich aus den Erzählformen des Films, dem Bäumchen-Wechsel-Dich-Spiel der Helden und den Liedeinlagen eine eigene Ästhetik und legt mit "Bollywood" eine ironische Würdigung der Kinosucht seiner Landsleute vor. Jede Figur, jeden dramaturgischen Schachzug und zahlreiche Redewendungen bezieht er aus den großen Kinomythen seiner Heimat. Der Witz seines Romans liegt in der kalaidoskopischen Struktur.

So ergreifen Tharoors Figuren abwechselnd das Wort und stehen einem unsichtbaren Erzähler Rede und Antwort, unterbrochen von Kolumnen einer zähnefletschenden Celebrity-Reporterin, die ihre Leser als "Schätzchen" tituliert und jeden Artikel mit einem unheilsschwangeren "Grrrr" beendet. Eingelassen sind diese Monologe in eine Art Filmskript: es gibt sechs Aufnahmen, unterteilt in Innen- und Außendrehs, die jeweils durch Zusammenfassungen mehrerer Drehbücher ergänzt werden. Ab und zu schmettern die Figuren ein Liedchen, und auch das wird dann zitiert, wie etwa "I - I - I - I - I - I luff you / Du weißt wohl das ich das tu’".

Im Mittelpunkt steht - wie könnte es anders sein - der männliche Hauptdarsteller. Auf äußerst witzige Art werden das Filmleben und das wirkliche Leben eines Stars namens Ashok Banjara parallel entsponnen. Dabei kommt es zu prekären Überschneidungen. Immer wieder scheint das Leben die Filme nachzuahmen: Wenn Ashok in seinem ersten Film durch seine Partnerin Abha erfährt, wie das Geschäft wirklich läuft, wenn er später die Schauspielerin Maya, eine typische Unschuld vom Lande, heiratet und mit ihr Drillinge bekommt und wenn er am Ende in einem Mythenfilm, der von der Verwüstung der Erde erzählt, lebensgefährlich verletzt wird.

Die Grundidee von Tharoor ist dabei, dass Ashok im Kino ein edelmütiger Held ist, im Leben jedoch ein selbstsüchtiger, narzisstischer und charakterloser Sohn, Ehemann und Vater. Dabei arbeitet Shashi Tharoor immer wieder mit satirischen Verzerrungen. Gleichzeitig bekommt die indische Gesellschaft ihr Fett weg: Nepotismus und Korruption sind an der Tagesordnung. Und genau wie im Film verteilt der Romancier, der für seine schriftstellerischen Werke mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde, ganz einfach Rollen.

Neben der aufrichtigen Ehefrau Maya, die sich von ihrem treulosen Gatten schließlich abwendet, gibt es auch noch den Schurken Pranay, der zwar im Film immer der Bösewicht ist, sich im Alltag aber als ein fürsorglicher Freund und politisch denkender Mensch entpuppt. Es gibt den Bruder Ashwin Banjara, ewig im Schatten des Älteren stehend und nie so geliebt wie der Erstgeborene, den gestrengen Vater, einen Minister, der von seinem Sohn enttäuscht ist, und natürlich die sanfte, ehrwürdige Mutter.

Aufstieg und Fall eines Stars - das ist die Geschichte, die Tharoors Roman satirisch entfaltet. Nach einem bescheidenen Anfang wird Ashok Banjara dank seiner Förderer zum neuen Idol des indischen Kinos, aber als er seinen Ruhm für eine politische Karriere nutzen will und dem jüngeren Bruder seinen sauer verdienten Parlamentssitz streitig macht, kommt er durch seine zweifelhafte Moral in die Bredouille: Ins Ausland verlagerte Gelder werden ihm zum Verhängnis, er kehrt als Geschlagener zum Kino zurück, doch seine Zeit scheint vorbei, bis er in einem Mythenfilm eine Rolle akzeptiert, bei den Dreharbeiten verunglückt und ins Koma fällt, was ihn erneut zum Star macht. Tharoor liefert eine amüsante Gesellschaftsstudie und porträtiert seine geschichtensüchtigen Landsleute mit zärtlicher Ironie. Und nebenbei versorgt uns Tharoor auch noch mit einem kleinen ABC des indischen Kinos: Wer Nachhilfeunterricht in Sachen Bollywood benötigt, ist hier bestens bedient.


Rezensiert von Maike Albath


Shashi Tharoor: Bollywood
Aus dem Englischen von Peter Knecht.
Insel Verlag, Frankfurt/Main 2006, 413 Seiten, 22, 80 Euro